„Am
1. April 1915, 3 Uhr nachmittags, kamen Major Graf und sein Adjudant eben von
der täglichen Stellungsbesichtigung aus Ammerzweiler zurück, als eine Ordonnanz
des Regiments sie dringend auf das Regiments-Geschäftszimmer nach Bernweiler
berief. Dort wurde Major Graf von Hauptmann Grohe, dem Brigadeadjudanten, der
zu diesem Zweck mit Artillerie- und Pionieroffizieren in Bernweiler erschienen
war, der strikte Befehl erteilt, in der Nacht vom 1./2. April am Lerchenberg, nördlich
Ammerzweiler, einen Vorstoß zu unternehmen und Gefangene einzubringen. Die
erheblichen Bedenken (Vollmondnacht; keine Zeit zu Vorbereitungen; ungünstiges
Gelände) mußten gegenüber dem Befehl der Brigade, daß „höhere Rücksichten die
sofortige Ausführung verlangten, koste es was es wolle“, zurücktreten.
Major
Graf setzte infolgedessen mit Billigung des Regiments zwei Unternehmungen an.
Einmal hatte Hauptmann Kieser (4. Komp.) die französische Stellung auf dem 304
m hohen Lerchenberg zu stürmen; und dann hatte Leutnant Seebaß, Führer der 1.
Komp., den vor dem feindlichen „Balschweiler Vorwerk“ befindlichen
Unteroffiziersposten auszuheben. Die Vorstöße waren als nächtliche
Überrumpelungen gedacht. Artillerie wurde, ohne sich vorher eingeschossen zu
haben, von der Brigade bereitgestellt.
Die
Vorbereitungen zum Angriff waren 1.30 Uhr nachts beendigt. Die Brigade behielt
sich jedoch vor, den Befehl zum Angriff zu erteilen, der gleichzeitig mit einer
Unternehmung des Landw.-Inf-Reg. 119 bei der Ziegelei Mischen bei Oberburnhaupt
stattfinden sollte.
Es
war eine wunderbare klare Vollmondnacht. An der ganzen Front herrschte
Totenstille. Hell hoben sich die dunklen Linien der feindlichen
Lerchenbergstellung im Schein des Mondlichts ab. Da bricht um 2.40 Uhr vormittags
Hauptmann Kieser in eigener Person mit seinen Leuten von der 4. Komp. in
überraschendem Angriff gegen die feindlichen Linien vor. Zwei Gruppen
Infanterie in der Mitte, je drei Gruppen mit einigen Pionieren der badischen 2.
Res.-Pionier-Komp. 14 vermischt auf den Flanken. Im Marsch, Marsch! geht es wie
auf dem Exerzierplatz über die mit dichtem Gras und Gestrüpp bewachsenen Äcker
hin, rasch war nach mehreren Sprüngen das feindliche Drahtverhau erreicht;
schon stürzt sich die nördliche Abteilung unter dem schneidigen Vizefeldwebel
Heller der 4./L. 123 in den vordersten feindlichen Graben, rennt auf einen
Unterstand los und wirft Handgranaten hinein; doch siehe, der Feind ist gewarnt
und rennt schleunigst davon. Vizefeldwebel Heller eilt mit einigen beherzten
Leuten nach; schon ist er eine Franzosen auf 3 m nahe, da rasselt ein
feindliches Maschinengewehr von der Seite her. Vizefeldwebel Heller fällt, ins
Herz getroffen; die andern werden verwundet. Der Angriff kommt ins Stocken; die
Schar zieht sich, die Leiche des tapferen Führers in der Mitte, zurück.
Die
mittlere Abteilung beschäftigt inzwischen befehlsgemäß den Feind durch Feuer.
Gleichzeitig stürmt Hauptmann Kieser mit der linken Abteilung in raschem Tempo
über die Straße Ammerzweiler–Niederburnhaupt und gelangt bis an das
Drahthindernis des Gegners. Doch hier ist der Feind auf seinem Posten. Als
hätte er Kenntnis von dem Vorstoß, schickt er Hauptmann Kieser eine starke
Abteilung in die linke Flanke und überschüttet ihn und seine braven Leute mit
heftigem Maschinengewehrfeuer. Die Überraschung war mißlungen. Mit Toten und
Verwundeten kehrte auch diese Abteilung in die eigene Stellung zurück.
Kaum
hatte Hauptmann Kieser durch Fernsprecher dem Bataillon und Regiment Meldung
erstattet, als die Brigade einen sofortigen zweiten Angriff mit Artillerie
befahl.
Rasch
rafft Hauptmann Kieser acht Gruppen seiner Kompagnie mit zwei Gruppen Pionieren
zusammen und stürmt 4.30 Uhr vormittags noch einmal unter dem Schutze der
eigenen Artillerie vor. Es gilt, keine Minute zu verlieren; denn von der Nacht
bleibt wenig Zeit mehr übrig. Es gelingt ihm, mit dem zuverlässigen Leutnant
Hauff die Straße Niederburnhaupt–Ammerzweiler, südlich der feindlichen Stellung
auf dem Lerchenberg, zu überqueren und durchs Drahtverhau in die feindliche
Stellung einzudringen. Doch siehe, der kluge Feind hat den ersten Graben
geräumt und sich in rückwärtige, die erste überhöhende Linien zurückgezogen.
Hauptmann Kieser schwenkt nun nach Norden ein und gedenkt, das feindliche Werk
von der südlichen Flanke aufzurollen. Da geraten die vorgehenden Gruppen wie
beim ersten Angriff in heftiges Maschinengewehr- und Infanteriefeuer, das die
eigene Artillerie nicht niederhalten kann, weil beide Parteien schon zu eng
ineinander verstrickt erscheinen. Schwere Verluste treten ein. Hauptmann Kieser
wird von drei Schüssen an beiden Armen schwer verwundet und verliert für
längere Zeit das Bewußtsein; Leutnant Hauff sinkt, durch die Brust geschossen,
nieder; zwei weitere Zugführer, Vizefeldwebel Dreher und Stimm, von der 4./L.
123, werden gleichfalls schwer verwundet.
So
war der Erfolg der tapferen Schar zum zweiten Male versagt. Sie mußte umkehren.
Aber gerade der Rückzug war am allerschwersten. Zwar drängte der Feind über
seinen ersten Graben hinaus nicht nach. Aber inzwischen war es hell geworden.
Und nun lag die breite Mulde, durch die die Stürmer hindurch mußten, im
scharfen Maschinengewehrfeuer des Feindes, das trotz eigener Artillerie und
Maschinengewehre nicht zum Schweigen gebracht werden konnte. Mancher brave Landwehrmann
wurde auf dem Rückweg erst verwundet und lag nun, von Feind und Freund gesehen,
zwischen dem Drahtverhau der beiden Stellungen. Die Versuche, die Schwerverwundeten
unter dem Schutz der Genfer Flagge hereinzuholen, die der Bataillonsadjudant mit
einigen Tapferen anstellte, wurden mit heftigstem Maschinengewehr- und
Infanteriefeuer des Feindes beantwortet.
Schließlich
gingen der stellvertretende Führer der 4. Komp., Leutnant Dinkel, Friedrich,
und Unteroffizier Kolb aus eigenem Antrieb mit einer großen Genfer Flagge in
die feindliche Stellung, um mit dem französischen Führer über die Bergung der
Verwundeten zu verhandeln. Ein französischer Leutnant vom 235. Inf.-Regiment
erschien, teilte aber nach kurzer Besprechung mit dem französischen Oberkommando
mit, daß die Franzosen eine Bergung der verwundeten Deutschen nicht gestatten
und nur die Toten herausgeben würden. Die Unterredung war ergebnislos. Wer sind
nun die „Barbaren“, als welche man die Deutschen hingestellt hat? Das Urteil
sei dem Leser überlassen.
Der
zweite Vorstoß, den die 1./L. 123 in der Balschweiler Stellung unternahm,
verlief planmäßig und ohne Verlust, hatte aber auch kein positives Ergebnis, da
der Feind – ob gewarnt? – den Unteroffiziersposten just in dieser Nacht geräumt
hatte. Immerhin ließ Leutnant Stark, der Führer der Patrouille, die gesamten
Anlagen gründlich zerstören und einebnen.
Der
2. April 1915 war für das I./L. 123 und die 4. Komp. ein schwerer Karfreitag
geworden, ein Tag des Opfers und des Leidens. 10 Tote, 18 Verwundete, darunter
viele Chargen, vom Hauptmann bis zum Gefreiten herunter, und etwa ein Dutzend
Leute, die verwundet in französische Gefangenschaft gerieten, hatte dieser Tag
gekostet. Und das schwerste war, daß die Unternehmung keinen Erfolg gehabt
hatte. Es gelang zwar, in den folgenden Nächten noch 4 unverwundete, aber
völlig erschöpfte Kameraden und 4 Tote im Vorgelände zu bergen; aber dies
änderte am Gesamtergebnis nichts.“
aus: „Württembergisches
Landw.-Inf.-Regiment Nr. 123 im Weltkrieg 1914–1918“, Stuttgart 1922
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