Montag, 15. Juni 2015

15. Juni 1915


„Die sonst so stillen Täler hallten vom Kriegslärm wider, von dem Feuerschein der brennenden Häuser geleitet flüchtete der Rest der Zivilbevölkerung das Münstertal hinaus. Vom Lauchtal bis zum Barrenkopf lag sich sich steigerndes feindliches Artilleriefeuer auf den deutschen Linien – dem Franzosen ging es um mehr als nur örtliche Erfolge! Sein alter Traum sollte sich verwirklichen, nach der Einnahmen von Hilsenfirst durch Lauch- und Fechttal in die Rheinebene vorgedrungen werden. Am 14. Juni begann die Schlacht. Schwere 28-cm-Granaten zerpflügten den 1270 m hohen Hilsenfirstgipfel, bald sind von der Linie über Latschenköpfle zur Wüstenrunz nur noch Trümmer übrig. Auch die Reserven erhalten Feuer; um 5 Uhr nachmittags trifft von der Brigade der Befehl ein: „Die Württembergische Gebirgs-Kompagnie ist alarmbereit!“ 9.30 Uhr abends wird er ergänzt: „Vom III. Bataillon Reserve-Infanterie-Regiment 79 ist bekannt, daß nachmittags in der Wüstenrunz ein vorgeschobenes Grabenstück verloren ging. Seither fehlt jeder Verbindung mit dem Bataillon. Die Kompagnie hat gegen die Hilsenfirststellung vorzugehen, die Lage festzustellen und das verlorene Grabenstück in der Nacht wieder zu nehmen!“ Sofort tritt Zug Wagner zur Aufklärung der Lage an. Die Unteroffiziere Schuster und Knupfer erkunden Hilsenfirst-Nord und Latschenköpfle, dort finden sie die preußischen Kameraden am Waldrand und stellen durch Verbindungsleute den Anschluß an die Gipfelstellung wieder her. Leutnant Wagner läßt seinen Zug in die Infanteriestellung einschwärmen. Die Aussagen der 79er über die Ereignisse des ersten Kampftages sind sehr verworren und ergeben kein genaues Bild, nicht einmal die Lage des verloren gegangenen Grabenstückes ist ganz einwandfrei festgestellt, als die restlichen drei Züge gegen 3 Uhr morgens in Lechterwand eintreffen. Noch fallen nur vereinzelte Infanterieschüsse, im Osten kündet ein flammendes Morgenrot den jungen Tag. Fröstelnd stehen die Schützen in der Morgenkühle, den schweren Rucksack auf den Karabiner gestützt, der Frühwind trägt einen sonderbar scharfen Geruch nach Schwefel und Harz vom Wald herunter. Leise summt die Gruppe eine Melodie, ahnungsvoll todbereit: „Morgenrot, Morgenrot …“
Das Gepäck wird im Wald abgesetzt. Oberleutnant Schaller läßt sich von Leutnant Wagner über die Lage unterrichten und befiehlt dann den dritten Zug unter Leutnant Ludwig zur Besetzung der Gräben der Hauptstellung; der zweite Zug unter Leutnant Banzhaf verlängert den bereits am Waldrand liegenden Zug Wagner nach rechts. – Anschließend am rechten Flügel geht der vierte Zug mit Leutnant Zehender vor, beauftragt, den linken Flügel des Gegners zu umfassen und gegen die Hauptstellung zu drängen. Die Maschinengewehre stehen auf Anordnung von Oberleutnant Morneburg hinter dem linken Flügel der Kompagnie in Gefechtsbereitschaft. Mit zwei Maschinen-gewehren und 180 Karabinern geht die Kompagnie ins Gefecht. Schon ist der erste Zug, ohne den Aufbau der übrigen Züge abzuwarten, unter Führung des preußischen Infanterieoffiziers, dessen Kompagnie den Graben verlor, zum Sturm angetreten. Stärkstes feindliches Abwehrfeuer gebietet dem Vordringen Halt, der tapfere preußische Leutnant fällt. Mittlerweile stellen sich die andern Züge im Laufschritt befehlsgemäß auf, sind jedoch am raschen und gleichmäßigen Vorgehen durch Drahtverhaue stark behindert. Mörderisches Feuer empfängt sie. Leutnant Zehender stürmt seinem vierten Zug voran; beim Heraustreten aus dem Wald beschlagen sich die Gläser seiner Brille und ehe er die Lage erkennen und dem Zuruf „hinwerfen!“ des Unteroffiziers Schild folgen kann, trifft ihn eine Kugel in den Hals. Unbekümmert um das rasende Feuer will Unteroffizier Schober als treuer Freund seinem Führer beispringen, da erreicht auch ihn das tödliche Geschoß. Die Verluste wachsen, – nur zu gut liegendes feindliches Artilleriefeuer setzt ein, – vor allem machen den Angreifern die gerade gegenüber am Schnepfenried aufgestellten Batterien schwer zu schaffen. eine Granatlage nach der anderen heult heran, das Schicksal des Angriffs ist besiegelt, der Kompagnieführer gibt den Befehl, ihn abzubrechen und langsam in die Ausgangsstellung zurückzugehen. Zur Vermeidung unnötiger Verlust werden nur Beobachtungsposten vorne gelassen und durch Fernsprechleitungen mit der Hauptstellung verbunden, die in fieberhafter Eile am Steilhang oberhalb Lechterwand ausgebaut wird. Mit verbissener Wut und bitterer Trauer um die gefallenen Kameraden wird die Rückbewegung durchgeführt.
In der Hauptlinie wird die Verbindung nach rechts und links aufgenommen; durch Fernsprecher erstattet der Kompagnieführer an die Brigade Bericht über die Vorgänge. Diese kann sich kein klares Bild über die Geländeverhältnisse machen und befiehlt Oberleutnant Schaller zur mündlichen Besprechung ins Brigadestabsquartier. Das Kommando über die Kompagnie erhält so lange Oberleutnant Morneburg. Das feindliche Feuer steigert sich immer mehr. Stunde um Stunde prasselt der Eisenhagel auf den Berg nieder, von Süden, Westen und Nordwesten wird der Hilsenfirst zertrommelt; alle Kaliber sind dabei beteiligt, von den kleinen Eselsgranaten bis zu den großen 28ern, die vom Belchen herüberkommen und mächtige Löcher in den Boden reißen. Bäume stürzen krachend, Steine, Wurzeln, Granatsplitter und Zweige wirbeln in der mit Rauch und Schwefeldunst erfüllten Luft; in dieser Hölle graben sich Menschen mit kurzen Infanteriespaten in den steinigen Boden, helfen mit hastigen Händen nach, um nur tiefer, tiefer zu kommen, ducken sich in die Löcher, wenn eine Granatlage bedrohlich heranpfeift, warten gekrümmt, atemlos, mit geschlossenen Augen auf den Einschlag und nur zu oft gibt der Kamerad links oder rechts keine Antwort mehr, wird nie mehr eine geben. Die Verluste sind schwer, die Linie wird dünn, aber sie hält.
Eine Infanterie-Kompagnie verstärkt rechts der W.G.K. 1. Besonders schwierig wird die Lage der Gipfelbesatzung, sie leidet furchtbar unter der starken Feuerwirkung, die sich gegen Nachmittag auf sie konzentriert. Auch die rückwärtigen Verbindungen werden mit Geschossen überschüttet, um das Heranbringen von Reserven, Munition und Verpflegung zu unterbinden. Die eigene Artillerie rührt sich kaum, die wenigen Batterien sparen ihre Munition für die Angriffsabwehr. Schlag 5 Uhr sieht der als Beobachter mit seiner Gruppe vorn liegende Unteroffizier Elsäßer, wie es drüben beim Gegner lebendig wird. Am hohlen Wald und am Langenfeldkopf werden die spanischen Reiter auseinandergeschoben und in wenigen Minuten entwickeln die dunkelblauen Alpenjäger dichte erste, zweite und dritte Angriffslinien. Sie kommen in breiter Front, Offiziere voraus, in gleichmäßigem Schritt den Hang herunter, rechter Flügel gegen Hilsenfirstgipfel, linker nach der Wüstenrunz. „Alarm! Sie kommen!“ gellt der Ruf. Er löst die ungeheure Nervenspannung, beendet das Gefühl des Ausgeliefertseins an den nächsten Granattreffer. Zweiter, dritter und vierter Zug richten sich in der Felshalde ein, dort ist gutes Schußfeld auf den anrückenden Gegner, weshalb auch Leutnant Stäbler sein Maschinengewehr dort aufstellt. Der erste Zug gräbt sich als Verbindung zur Gipfelstellung in Schwarmlinie am Osthang des Latschenköpfle oberhalb der Waldgrenze ein. Die Franzosen sind indessen auf 6–700 Meter herangekommen. Sie rechnen nicht mit großem Widerstand, ihre Artillerie hat ihnen gut vorgearbeitet! Sie rechnen auch nicht mit schwäbischer Zähigkeit. Rasendes Feuer schlägt ihnen entgegen, die Schützen jagen aus den Karabinern heraus, was das Zeug hält, und das von Leutnant Stäbler selbst bediente Maschinengewehr mäht ganze Reihen der „blauen Teufel“ nieder. Der Angriff wankt und flutet zurück. Ungeachtet aller Verluste versucht der Gegner erneut, vorzukommen. Er muß wieder zurück. Die feindliche Artillerie überdeckt die Felshalde mit Schrapnellfeuer. Aber die Schützen weichen nicht, sie halten den immer und immer wieder anstürmenden Franzosen stand, die schließlich jedes weitere Vorgehen gegen die Wüstenrunz aufgeben müssen und sich am jenseitigen Hang eingraben.
Äußerst bedrohlich ist die Lage in der Gipfelstellung. Soweit deren Besatzung nicht geflüchtet war, ergab sie sich den französischen Kräften, die durch das Flankenfeuer der Gebirgsschützen nachgekommen waren. Aber der durch starke Verluste geschwächte Gegner vermochte den errungenen Vorteil nicht auszunützen; der schwachen Gebirgs-kompagnie, die allein noch auf dem Hilsenfirst aushielt, wäre es fast schlimm ergangen. Leutnant Wagner hat nach links verlängert, als die Infanterie zurückging; seine Linie ist jetzt sehr dünn, aber bereit, den Franzmann heiß zu empfangen, wenn er vom Gipfel nachrückt. Die Verbindung mit den anderen Zügen ist abgerissen. Wenn die Franzosen nachstoßen, ist die Kompagnie umzingelt, und im Bewußtsein der gefährlichen Lage gibt Oberleutnant Morneburg den Befehl: „Die Kompagnie zieht sich nach Landersbach zurück!“ Leutnant Wagner, den dieser Befehl nicht erreicht, befiehlt dem 1. Zug seinerseits: „Die Stellung wird unter allen Umständen gehalten.“ Teile der Kompagnie ziehen sich in den Wald unterhalb Lechterwand zurück und bereiten eine Aufnahme-stellung vor. Ein Häuflein wackerer Schützen aber, von allen Zügen, bleibt in den am Tag gehaltenen Stellungen. Um 9 Uhr abends bläst der Feind noch einmal zum Angriff, aber kein Franzose verläßt den Graben. Endlich steigt aus den Tälern die lang ersehnte Dunkelheit herauf und bringt einigermaßen Ruhe über das Kampffeld. Weithin lodert der Flammenschein der brennenden Dörfer an der Fecht; immer wieder gehen Leuchtkugeln hoch, knallen die Peitschenschläge vereinzelter Infanterieschüsse in das Vorgelände. Für die Verteidiger gibt es keine Pause. Fieberhaft wird am Ausbau der behelfsmäßigen Stellung gearbeitet und nicht ohne Sorge an den nächsten Tag gedacht. Nach Mitternacht kommt Hilfe. Im Steinbergwald ist das 14. Jäger-Bataillon eingetroffen, die in der Nacht noch vorkommenden Kundschafter werden freudig begrüßt.“



aus: „Die Geschichte der Württembergischen Gebirgsschützenׅ, Stuttgart 1933

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