„Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß neue feindliche Angriffe
bevorstanden. Zwecks besten Zusammenarbeitens beider Waffen wurde ein älterer,
erfahrener Offizier der Abteilung als Verbindungsoffizier zu dem
Abschnitts-Infanterie-Bataillon nach vorne geschickt: Leutnant d. R. Sapper
(Richard), mit je einem Telephonisten der Batterien der Untergruppe. Was dieser
kleine Trupp erlebte und leisten mußte, und in welcher Weise Sapper zur
Wiedereroberung von Guillemont beigetragen und dadurch vielen Kameraden das Los
der Gefangenschaft erspart hat, ist am besten aus nach-folgender Erzählung
dieses hochverdienten Offiziers des Regiments zu ersehen:
„Ich melde mich gehorsamst als Artillerie-Verbindungsoffizier zum Bataillon
kom-mandiert!“ Etwas atemlos erstattete ich am frühen Morgen des 20. Juli 1916
im Bataillonsgefechtsstand in Guillemont diese Meldung, denn die letzten 500
Meter der Straße, die ich zurückgelegt hatte, waren unter heftigem
Artilleriefeuer gelegen. In ununterbrochener Folge hatten die schweren Geschosse
des Engländers den Schotter der Straße aufgerissen oder sich dicht links und
rechts derselben in den weichen Ackerboden gebohrt und mit ohrenbetäubendem
Krachen messerscharfe Stahlsplitter und schwere Erdstücke umhergeschleudert.
Der Gefechtsstand des sächsischen Infanterie-Bataillons, zu dem ich
kommandiert war, befand sich am Ostrande des kleinen Dorfes Guillemont in einem
sieben Meter unter die Erde getriebenen Stollen mit zwei Ausgängen, etwa 500
Meter hinter der vordersten Linie, die am Westrande des Dorfes verlief.
In dem 1,20 Meter breiten Gang, der die beiden Ausgänge verband, stand ein
kleiner Tisch. An ihm saßen beim Licht einer rußenden Kerze der
Bataillonsführer und sein Adjudant über ihren Karten und Stellungsplänen. Ein
handgroßes Plätzchen an ihm bekam nun auch ich als Arbeitsplatz zugewiesen.
Drei Infanteristen und drei Artilleristen bedienten auf dem Boden kauernd ihre
Telephonapparate, und auf den Stollentreppen hockten noch ein halbes Dutzend
Meldegänger und Gefechts-ordonnanzen; damit war „das Haus“ bis auf den letzten
Platz gefüllt. Zum Schlafen war keine Stelle zu finden, an der man sich hätte
ausstrecken können. Nur der Kommandeur hatte ein kistenähnliches Bett, eine
Annehmlichkeit, die er aber während meines viertägigen Aufenthalts beim
Bataillon nur einmal für einige Minuten ausnützen konnte. Am ersten Tage meines
Kommandos leg der schwer gasvergiftete Bataillonsarzt in diesem Bett. Er
konnte, wie alle Verwundeten und Kranken, erst des Nachts nach rückwärts
gebracht werden.
Über Mittag flaute das feindliche Artilleriefeuer etwas ab. Nur die
eigensinnige englische „dicke Berta“, ein 38 Zentimeter-Geschütz. warf mit
unheimlicher Ausdauer und Pünktlichkeit alle 4–6 Minuten ihre derben Grüße in
unser Dorf. Schon seit Tagen, alle 4–6 Minuten, Tag und Nacht.
Alle 4–6 Minuten erzitterte der Boden unter der furchtbaren Wucht der
Einschläge dieses Riesengeschosses. Mit höllischem Krachen schoß eine
riesenhafte schwarze Staub- und Rauchwolke gegen den Himmel, gefolgt von dem
Prasseln und Klirren stürzenden Mauerwerks. In unserem Stollen erlosch das
Licht, die Nägel in den Wänden lockerten sich, Mützen, Mäntel, Waffen, alles
flog durcheinander. Es war klar, daß auch unser sieben Meter tiefer Stollen der
vernichtenden Kraft dieser Granaten nicht hätte widerstehen können. Wir hatten
deshalb nach jedem Einschlag, der unsere Deckung noch nicht eingedrückt hatte,
das „erleichternde“ Bewußtsein, daß das Schicksal uns nocheinmal eine Frist von
mindestens 4–6 Minuten gegönnt hat, ehe wir vielleicht verschüttet, verkohlt
oder erstickt, dem Leben den Rücken kehren mußten. Die Versuchung, immer nur
diesem Gedanken nachzuhängen, war so groß, daß es aller Willenskraft bedurfte,
bei seiner Arbeit zu bleiben und seine Ruhe zu bewahren.
Täglich wurden auch mehrmals durch die besonders nahe einschlagenden 38er
unsere Stolleneingänge verschüttet, so daß schnellstens mit Picke und Spaten
Luft geschafft werden mußte.
Wieder bebte die Erde. Ein neuer Donnerschlag schmerzte in den Ohren, als
gleich darauf zwei Leute die Treppe herunterkeuchten. Bart- und Kopfhaare waren
ihnen weggebrannt, der Rock des einen glostete noch. Sie würgten nach Worten,
die Angst war ihnen an die Kehle gesprungen. A–a–alles tot! A–alles tot, rang
es sich endlich von ihren verzerrten Lippen. Es waren zwei Leute aus unserer
Telephonzentrale, die in einem ebenfalls mindestens sieben Meter tiefen Stollen
unter einem Haus uns gerade gegenüber untergebracht war. Der Stollen war von
dem letzten Schuß durchschlagen worden und 23 Mann lagen unter seinen Trümmern,
sieben Meter unter dem Boden, begraben. Die beiden geretteten Leute befanden
sich zur Zeit des Unglücks am
Stollen-eingang oben, und es war ihnen aus dem Stollen heraus die Stichflamme
des explodierenden Geschosses ins Gesicht geschlagen. Die sofort ausgeschickte
Rettungs-mannschaft konnte nur einen Militärstiefel mit dem Rest eines
verkohlten Beines bergen. Ein weiteres Vordringen durch den fast gänzlich
verschütteten Eingang machte das Vorhandensein von Kohlenoxydgas, an dem auch
einer der Rettungsmannschaften erkrankte, unmöglich. Die 23 Mann im Stollen
waren verloren.
Unendlich langsam verstrich der Tag. Dumpf vor sich hinstierend lauschte man
auf den wieder anschwellenden Gefechtslärm. Aus einer Ecke drang das quälende
Röcheln des gasvergifteten Rettungsmannes, vermischt mit dem leisen Wimmern der
völlig zusam-mengebrochenen Leute aus der Telephonzentrale. Ab und zu kamen
Gefechts-ordonnanzen mit durch Schrecken und Anstrengung unkenntlichen
Gesichtern, über-brachten wortlos ihre Meldungen aus vorderster Linie und wurden
mit Befehlen wieder hinausgeschickt.
Meine Telephonverbindung zu den Artilleriebeobachtungen waren schon längst
nicht mehr aufrechtzuerhalten gewesen. Ich konnte meine drei Telephonisten nur
als Meldegänger verwenden. Schon am ersten Tage fielen zwei von ihnen durch
Gas-vergiftung aus, und erst nach zwei Tagen bekam ich einen Mann einer
preußischen Batterie und den Kriegsfreiwilligen Hofer der 6. Batterie als
Ersatz.
Gegen Abend steigerte sich das feindliche Artilleriefeuer aller Kaliber zum
Trommel-feuer. Zweifellos wollte der Engländer wieder angreifen, wie er es seit
Tagen fast jeden Morgen und Abend an dieser Stelle versucht hatte.
Da keine telephonische Verbindung mehr nach rückwärts bestand, eilte ich
mit einer Leuchtpistole und roten und grünen Leuchtkugeln nach dem
Stolleneingang hinauf. Dort oben war die Hölle los! Mit betäubendem Krachen
schlugen überall die Granaten ein, hüllten die stürzenden Häusermauern in ihre
schwarzen Rauchwolken, bohrten sich in die Trümmer und wühlten in den
Schutthaufen, Steine und Eisen emporreißend. Mit scharfem Krachen und heller
Flamme zersprangen die Schrapnells und klirrend barsten die Dachziegel unter
ihrem Bleihagel. Balkenwerk begann zu brennen und über der Feuerglut flatterten
zahllose weiße Leuchtkugeln am Himmel, von dem sich die zerschossenen und
zerfetzten Häuserruinen in grotesken Silhouetten abhoben. Und da! – jetzt
ging’s los! – Scheinwerfer blitzen auf, Maschinengewehr- und Infanteriefeuer
knatterte die Gräben entlang. Ich feuerte meine roten Signalpatronen ab, auch
aus den Gräben stiegen jetzt überall unter weißen Leuchtkugeln rote hoch, –
Sperrfeuer!
Wütend kläfften hinter uns unsere Feldgeschütze auf, hämmerten und klopften
Haubitzen und Mörser. Jetzt erst war das Orchester vollständig! Mit wilder
Freude lauschte ich über mir auf das Pfeifen, Schleifen und Gurgeln unserer
Geschosse, die den Engländern entgegenschlugen. Brav so, ihr Artilleristen,
schießt, schießt, was die Rohre schaffen können!
Nach ungefähr einer Stunde ließ das Feuer nach. Die Meldungen von den
Kompagnien und benachbarten Bataillonen liefen ein. Der Angriff war wieder
überall, teilweise im Nahkampf, abgewiesen worden.
Am nächsten Morgen begleitete ich den Bataillonskommandeur in den Graben.
Mühsam kletterten wir über die Trümmer der Häuser und durch die unzähligen
Trichter, die die Granaten in die Straße gerissen hatten, oder keuchten unter
der Gasmaske durch den Giftnebel der Gasgeschosse, die der Engländer in reichem
Maße verwendete. Hin und wieder peitschte eine Reihe Maschinengewehrschüsse die
zerstörte Dorfstraße entlang. Mit eigentümlichem Gezwitscher zerschnitten die
kleinen Geschosse die Luft und bohrten sich mit hartem Schlag in zersplittertes
Holz, oder prallten grell aufsingend von Mauerresten ab.
Dann kam der Graben! – Graben? – zerwühlte, zerrissene Erde. In kleinen,
mit dem Handspaten ausgehobenen Löchern kauerten lehmbeschmutzt graue Bündel
mit braun gegerbten, faltigen Gesichtern und rußigen Händen. An einigen Stellen
lagen Tote in langen Reihen mit Zeltbahnen bedeckt über Deckung. Mit dumpfem
Knallen schlugen immer von neuem die feindlichen Infanteriegeschosse in ihre
verstümmelten Glied-maßen.
Ein furchtbar schreiender Mann wurde unter den Trümmern eines verschütteten
Unterstandes hervorgezogen; ein anderer saß in einer Dreckpfütze und sang.
Seine Haare klebten in filzigen Strähnen an der Stirn; der Wahnsinn stand in
seinen weit aufgerissenen Augen. Als wir vorübergingen, erzählte er uns
geschwätzig, er habe den Teufel gesehen, gestern und alle Tage, es sei sehr
lustig gewesen ֪ ha, ha! – er habe mit ihm getanzt – und er lachte und
schnalzte mit der Zunge.
Ein junger Mensch trat auf mich zu. Er zitterte am ganzen Leib und
stammelte immer wieder die eine Frage: „Wann werden wir abgelöst?“
Zu Tode erschöpft hatten diese braven Leute seit 14 Tagen in vorderster
Linie im furchtbarsten Feuer ausgehalten, ohne Ablösung, ohne genügende
Verpflegung, und wehrten täglich die wütenden Durchbruchsversuche des
Engländers ab.
Gegen Abend zerriß wieder das wütende Dröhnen und Krachen des Trommelfeuers
die Luft; wieder wurde die Erde und die Trümmerstätte des Dorfes von Tausenden
von Geschossen durchwühlt; wieder schritt der Engländer zum Angriff. Auch
diesmal wurde er abgeschlagen. Aber sein Feuer setzte nicht aus. Die ganze
Nacht lief unter der Wucht der Einschläge ein Beben durch die Erde. Von den
Kompagnien kamen verzweifelte Hilferufe. Die wenigen ihnen noch gebliebenen
Unterstände und Stollen wurden nacheinander durch das rasende Feuer zerhämmert.
Unser Unterstand füllte sich mit Schwerverwundeten. Stöhnen, Weinen und
Schreien erfüllte immer lauter und furcht-barer den kleinen Raum. Es waren meist
Essenholer, die ihren Kameraden von den weiter hinten haltenden Feldküchen die
warme Suppe und Brot in den Graben bringen sollten. Jeder von uns hatte alle
Hände voll zu tun, den teilweise fürchterlich Verletzten den ersten Notverband
anzulegen.
Sonntag, den 23. Juni, morgens 5 Uhr, war wieder heftiges Infanteriefeuer
durch den Höllenlärm der Artillerieschlacht zu hören. Nach einer Stunde jedoch
plötzlich fast vollständige Ruhe ein. Meldungen von vorne waren noch nicht
eingetroffen. In der Annahme, daß der Angriff wieder abgeschlagen, nützte alles
die seltene Ruhe, um endlich einmal wieder ein wenig zu schlafen. Ich vermochte
aber trotz der großen Müdigkeit kein Auge zu schließen. Die seltsame Stille
beunruhigte mich. Kein Schuß fiel mehr in unsere Nähe, selbst die „dicke Berta“
schwieg sich aus.
Plötzlich hörte ich einige Infanterieschüsse. Sie mußten ganz in der Nähe
unseres Stollens abgefeuert worden sein. Das war unheimlich. Ich eilte nach
oben. Da sah ich zwei Infanteristen in schnellstem Lauf durch die Trümmer
hetzen. Die wollten offensichtlich zu uns. Und dann krachten wieder ganz nahe
zwei Schüsse. Mit gräßlichem Aufschrei warf der eine der beiden Meldegänger die
Hände hoch und stürzte vornüber aufs Gesicht. Der andere rannte an mir vorüber
die Stollentreppe hinunter mit dem Ruf: „Herr Major, die Engländer sind da!“
Das war kein sanfter Weckruf für die erschöpften Schläfer dort unten; es
trat ein Moment wortlosen Erstarrens ein, dann rannte alles mit seiner Waffe
nach oben. Doch ehe wir wußten, wo wir den Feind zu suchen hatten, krachte eine
Handgranatensalve zwischen uns und setzte lebhaftes Schützenfeuer auf uns ein.
Und schon nach wenigen Sekunden waren zwei Mann gefallen, der Major, der
Adjudant und fünf Ordonnanzen verwundet. Wir Übriggebliebenen trugen darauf die
Verletzten wieder in den Stollen und legten ihnen Notverbände an. Viel Mühe
hatten wir mit dem Unterbinden eines Mannes, dessen Schlagader am Oberarm
verletzt war. In dickem Strahl spritzte ihm das Blut aus der Wunde und rieselte
wie ein kleiner Wasserfall die Stufen der Stollentreppe hinunter.
Plötzlich leuchtete ein Feuerblitz im Stollen auf und ein heftiger
Doppelknall erschreckte uns. Die Stollentüren zersplitterten. – Handgranaten! –
Der Engländer warf durch die beiden Stolleneingänge Handgranaten, die in dem
dichten Knäuel verzwei-felter Menschen weitere Verwundungen herbeiführten. Eine
der Handgranaten brachte hundert Leuchtkugeln, die im Stollen lagerten, zur
Explosion, und der kleine, dunkle Raum füllte sich dadurch mit zähem, beizendem
Rauch, der das Atmen beinahe zur Unmöglichkeit machte. – Es kamen fürchterliche
Stunden für uns. Die Hand-granatenwerferei nahm ihren Fortgang. Meldungen von
außen gingen natürlich keine ein. Die Hoffnung auf Entsatz schwand von Stunde
zu Stunde mehr. Beklemmende Stille herrschte draußen. Die anfängliche
Erregtheit wich langsam einer völligen Apathie. Die irrenden Gedanken begannen
sich auf den einen festzulegen: man macht sich mit dem Gedanken des Todes,
bestenfalls mit dem einer Gefangennahme vertraut.
Wehmütiges Lächeln spielte um manchen herb geschlossenen Mund. Sie mochten
an die Vergangenheit denken, an ihre Lieben, an das Märchen von Frieden und
Glück.
Verschiedene Meldegänger hatten schon versucht, mit Berichten über unsere
bedrohte Lage ins Freie zu kommen. Es war ihnen nicht gelungen. Einer brach
gleich am Stolleneingang durch einen Hieb auf den Kopf ohne Laut zusammen. Ein
anderer wurde wenige Schritte davor erschossen.
Nach sechsstündigem, qualvollen Zuwarten erbot ich mich selbst, nocheinmal
zu versuchen, eine Meldung zu unseren Reserven durchzubringen. Der Kommandeur,
der aus seiner durch einen Bauchschuß verursachten Bewußtlosigkeit erwacht war,
diktierte mir den Bericht. Mein einziger Telephonist, der mir noch unverwundet
geblieben war, der Kriegsfreiwillige Hofer, wollte mich durchaus begleiten. Ich
gab ihm meine Meldetasche zu tragen, steckte die Meldung aber selbst zu mir. Es
war wahrscheinlich, daß unmittelbar vor oder über den Stolleneingängen die
Engländer lagen. Zunächst also galt es, möglichst rasch aus dem Bereich ihrer
Nahkampfwaffen zu kommen, noch ehe sie die Zeit gefunden hatten, dieselben
gegen uns in Anwendung zu bringen. Was dann weiter zu tun war, mußte der Lage
angepaßt werden und unserem Glück überlassen bleiben. Ich unterrichtete Hofer
demgemäß: Wir mußten versuchen, ganz lautlos den halbverschütteten
Stolleneingang hinauszusteigen, dann wollte ich mit größtmöglicher
Schnelligkeit hinaus ins Freie eilen, Hofer sollte dann in einigem Abstand
folgen.
Mit entsicherten Revolvern gelangten wir auch unbehelligt bis zur letzten
Treppenstufe. Zu unseren Füßen, den Ausgang halb versperrend, lag hier mit
zertrümmertem Schädel, blutüberströmt, der eine unserer Ordonnanzen, die schon
versucht hatten, mit Mel-dungen aus dem eingeschlossenen Stollen zu gelangen;
kaum fünf Meter davon, das Gesicht im Schmutz vergraben, der andere von ihnen.
Das war kein ermunternder Anblick, und es trat der Moment ein, in dem ich erst
„den inneren Schweinehund zu überwinden hatte“, wie Richthofen sich ausdrückte.
Aber nur nicht denken, nur nicht denken und durch!
Unter Aufbringung aller meiner Kräfte jagte ich aus dem Stollen und wandte
mich dann unter der Deckung einer zerschossenen Böschung nach rechts. Doch
schon nach den ersten Sprüngen krachten hinter mir zwei Handgranaten und setzte
Infanteriefeuer ein. Ich sah keinen der Gegner, jedoch konnten die Schützen
nicht weit entfernt sein, denn die Abschüsse hörten sich hell und scharf an,
wie wenn man eine kleine Kinderpistole dicht bei meinem Ohr abfeuern würde.
Sand- und Steinsplitter spritzten mir von den einschlagenden Geschossen ins
Gesicht. Ich fühlte, wie kalter Schweiß meinen Körper bedeckte. Um ein wenig
Atem zu schöpfen, sprang ich in einen mit Wasser gefüllten Stollen in Deckung.
Zehn Minuten lang stand ich bis an die Brust in dem stinkenden Wasser. Nicht weit
von mir stöhnte ein Mensch, von Zeit zu Zeit stieß er röchelnde Rufe aus. Sehen
konnte ich ihn nicht. Meine Lage war nicht sehr aussichtsreich. Das feindliche
Artilleriefeuer hatte plötzlich wieder eingesetzt; es lag hauptsächlich auf den
Reservegräben, meinem Ziele. Unter unaufhörlichem Dröhnen und Krachen schossen
die Rauchwolken der Einschläge in die Höhe, vom tiefsten Schwarz bis zum hellen
giftigen Gelb. Ein Zurück war aber gänzlich ausgeschlossen; ich mußte unter
allen Umständen versuchen, trotz des heftigen Artilleriefeuers die Reserven zu
erreichen.
Vorsichtig schaute ich aus meinem Wasserloch und rief mehrere Male nach
Hofer, ohne Antwort zu bekommen. Plötzlich ein heftiger Knall dicht neben mir,
wieder Hand-granaten. Die Engländer mußten mich gesehen haben oder hatten sie
mich rufen hören? Jedenfalls durfte ich keinen Augenblick länger an meinem
„freundlichen“ Zufluchtsort bleiben. Ich kletterte vorsichtig aus meinem
Versteck und kroch, die Pistole in der Hand, auf dem Bauch weiter. Bald jedoch schlugen
rings um mich Infanteriegeschosse ein. Da packte mich sinnlose Wut; ich fluchte
und schimpfte wie ein ungezogenes Kind und warf alle Vorsicht beiseite. Ich
sprang auf und hetzte, immer im Zickzack, über freies Feld. Ich lief und lief.
Es ist kaum glaublich, wie ein Mensch in der Todesangst laufen kann. Ich kam in
ein Haferfeld, die Halme schlangen sich um meine Beine, ich stolperte, pfeifend
ging der Atem. Und endlich stürzte ich in einen Granattrichter, fiel platt auf
das Gesicht, der Mund war voller Erde, und hier blieb ich liegen, wie lange,
vermag ich nicht zu sagen. Langsam beruhigte ich mich wieder. Ja, eine gewisse
Fröhlichkeit und Zuversicht bemächtigte sich meiner nach einiger Zeit. Mit
fachmännischem Interesse verfolgte ich die Lage des feindlichen
Artilleriefeuers und wunderte mich, daß ich bei der vorzüglichen Höhe und Weite
der Schrapnellsprengpunkte nicht schon einige heiße Bleikügelchen in meinem
Körper sitzen hatte. Mit vollständiger Ruhe kroch ich dann durch das Haferfeld
gedeckt weiter, um mich erst kurz vor unseren Reservegräben aufzurichten, und
in raschen Sprüngen durch das massierte feindliche Abriegelungsfeuer den Graben
zu erreichen.
Das feindliche Feuer hatte hier in der kurzen Zeit schon furchtbar gehaust.
Der halbverschüttete Graben lag voller Toter. Der Bataillonskommandeur und drei
seiner Kompagnieführer waren in der letzten Stunde gefallen. Die angstvollen
Schreie Verstümmelter und das entsetzliche Röcheln Sterbender begleiteten mich
auf der mühsamen Suche nach dem einzigen überlebenden Kompagnieführer, jetzt
stellver-tretenden Führer des Bataillons.
In einem kleinen, kaum splittersicheren Unterständchen, das wie durch ein
Wunder bisher vom feindlichen Feuer verschont geblieben war, fand ich diesen.
Ich übergab ihm meine Meldung und teilte ihm meine persönlichen Beobachtungen
über die vermutliche Stellung des Feindes mit. Darauf wurden zwei Kompagnien
zum Gegenstoß angesetzt. Nach kurzem Kampfe gelang es diesen, die in Guillemont
eingedrungenen Engländer zurückzuwerfen und 140 Gefangene einzubringen.
Hofer, meinen zurückgebliebenen Telephonisten, fand man später, kam zehn
Meter von unserem Stollen in Guillemont entfernt, mit schwerer Kopfverletzung
tot in einem Granattrichter liegend. Meine Meldetasche hielt er in seinen verkrampften
Händen. Ich eilte, nachdem die zwei Kompagnien der Reserve den Graben zum
Gegenstoß verlassen hatten, zu den Batterien, um über die Lage Bericht zu
erstatten.“
aus:
„Das Württembergische Feld-Artillerie-Regiment Nr. 116 im Weltkrieg“, Stuttgart
1921
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen