„27. Juli 1916! – Die Sonne geht zur Neige. Ihre letzten Strahlen vergolden
das von Gräben durchzogene, von Büschen und hohem Gras überwucherte flandrische
Flach-land. Irgendwo tackt ein Maschinengewehr sein gewohntes Abendlied. Von
irgendwoher klingt ein Infanterieschuß; sonst Stille, tiefe Ruhe.
Da! – 10.30 Uhr abends – es zuckt im Osten hinter den deutschen Gräben auf.
Rau-schend saust es durch die Luft und wenige Sekunden darauf ein dröhnendes
Krachen drüben im englischen Graben. Staub und Rauch verhüllt ihn, Balken,
Drahtgewirr, Sandsäcke fliegen in die Luft.
Die Ouverture zum „Ausflug nach London“ hat eingesetzt. Das deutsche
Orchester ist wohl besetzt mit Mörsern, schweren und leichten Feldhaubitzen,
Feldkanonen und Minenwerfern jeder Art. Im deutschen Graben lebt es auf. Aus
den Unterständen drängen sich die Freiwilligen der Sturmtruppen.
Am weitesten rechts, an der vor K 1 vorgeschobenen Feldwache, steht die
„Patrouille Ost“ des II. Bataillons unter Leutnant Müh, Ersetzender
Offizierstellvertreter Reck. Am Marktplatz stehen die Freiwilligen des I.
Bataillons als „Patrouille Mitte“ unter Leutnant Kirschner, Ersetzender
Offizierstellvertreter Betz. Hier befinden sich auch der „Führer des Ganzen“,
Leutnant Bauer und sein Ersetzender, Leutnant Hermann, mit einem Artillerie-
und einem Regimentsfernsprechtrupp. Unmittelbar links davon schließt sich die
„Patrouille West“ des III. Bataillons unter Leutnant Welker, Ersetzender
Leutnant Klein, an.
Fürwahr! Eine stattliche Zahl, diese 200 Freiwilligen! Fast durchweg sind
es Dienst-grade, darunter 8 Offiziere, 6 Offizierstellvertreter und 9 Vizefeldwebel,
in der Haupt-sache Offiziers-Aspiranten.
10.45 Uhr abends: Durch die im eigenen Drahthindernis freigelegten
Sturmgassen geht es in der genau vorgeschriebenen Ordnung vor.
Das eigene Drahthindernis ist durchschritten.
Langsam, damit die Ordnung gewahrt bleibt, geht es durch das geheimnisvolle
Land, das zwischen den beiden vordersten Gräben liegt, in früheren Kämpfen
heißumstrittene Schützengräben bieten den Vorgehenden Deckung. Einige hundert
Meter müssen zurückgelegt werden, bis man an den Stellen angelangt ist, von wo
aus man zum letzten entscheidenden Sprung in die feindliche Stellung ansetzen kann.
Endlich ist man angelangt. Die wenigen englischen Schrapnells haben keine Verluste
gebracht. Hundert Meter sind es noch bis zum feindlichen Graben. Man hält.
Durch Wink und Zuruf werden die Verbände geordnet.
Noch einige Minuten gilt es zu warten. Über die dicht an den Boden
gepreßten Sturmtrupps braust die Wucht des deutschen Feuers. Die Splitter
gefährden die eigenen Leute; das muß in Kauf genommen werden. Das Feuer liegt
im allgemeinen gut, nur bei „Patrouille Ost“ gehen einige Mörsergeschosse zu
kurz.
Da kommt ein Wink vom Führer; rasch pflanzt er sich durch die Reihen fort.
Die Uhr zeigt zwischen 10 Uhr 54 Minuten und 10 Uhr 55 Minuten. In raschen,
wilden Sprüngen geht es zum englischen Graben! Alle Nerven sind gespannt. Kaum
daß man merkt, daß unsere Artillerie pünktlich 10 Uhr 55 Minuten die
vorgesehenen Einbruchstellen frei gegeben hat.
Plötzlich bei der „Mitte“ ein Stocken. Man steht vor einem 6 – 10 Meter
tiefen, durch das vorangegangene Artilleriefeuer kaum zerstörten Drahtverhau.
Und, während von links durch das dumpfe Krachen der Handgranaten und den hellen
Klang von Pistolen- und Gewehrschüssen das Hurra- und „hands up“- (von unseren
Leuten „Händ Sepp“ genannt) Rufen der Freiwilligen des III. Bataillons
herüberklingt, die unter Leutnant Welker schon in den englischen Graben
eingedrungen sind, vergehen bei der „Patrouille Mitte“ bange Sekunden.
Plötzlich ein heller Kommandoruf! Leutnant Bauer hat eine Gasse gefunden und
steht auf der englischen Brustwehr. Durch den engen Spalt drängen sich die
nachfolgenden Mannschaften.
Die ersten Engländer werden überrascht und aus dem Unterstand gezogen. Aber
bald hat sich der „Tommy“ gefaßt. Es sind tüchtige, kampferprobte Truppen, die
erst vor kurzem aus der Angriffsschlacht an der Somme abgelöst waren und hier
eine ruhige Stellung zu finden gehofft hatten.
Die Handgranaten können nicht mehr verwendet werden; zu nahe ist man
aufeinander geraten. Messer, Pistole, geschliffener Spaten und Bajonett fechten
den blutigen Strauß aus. Im Ringen können Freund und Feind kaum noch
unterschieden werden. Die Handgranaten räumen die Unterstände aus. Man wartet
kaum noch, ob auf den Ruf „hands upp“ eine Antwort erfolgt. Wo die geballten
Ladungen in die englischen Unterschlupfe fliegen, da brechen die
leichtgebauten, kaum splittersicheren Unterstände zusammen.
Endlich hat die überraschende Wucht des deutschen Ansturms die zahlenmäßig
weit überlegenen Engländer niedergerungen. Ihre blutigen Verluste sind viel
größer als die Zahl der eingebrachten Gefangenen, wie es bei dem äußerst
erbitterten Nahkampf nicht anders zu erwarten war. Der Führer gibt das Zeichen
zum Rückzug.
Der Angriff hatte bei der Patrouille „Mitte“ nicht, wie beabsichtigt, bis
zum zweiten englischen Graben durchgeführt werden können, durch den Aufenthalt
vor dem englischen Drahthindernis und durch die heftigen Kämpfe an der
Einbruchstelle waren die Verbände zu sehr durcheinander gekommen.
Bei „Patrouille West“ war der Vorstoß bis in den zweiten englischen Graben
gelungen. Sämtliche eigenen Toten und Verwundeten wurden geborgen und in die
Ausgangs-stellung zurückgebracht.
Bei der Rückkehr in den eigenen Graben wurden die beiden Patrouillen
„Mitte“ und „West“ von dem inzwischen eingesetzten englischen Sperrfeuer
erfaßt. Mancher „Tommy“, der diese Gelegenheit zur Rückkehr in die eigenen
Linien benützen zu können meinte, fiel noch unter deutschen Gewehrkolben.
Etwa 11 Uhr 10 Minuten war die größte Zahl der Teilnehmer in die
Ausgangsstellung zurückgekehrt.
Bei der Patrouille „Ost“ des II. Bataillons hatte nur die Entschlossenheit und
die Umsicht der Führer die zeitweise sehr gefährdete Lage retten können.
Durch zu kurz gehende eigene schwere Granaten war die Patrouille von ihrer
Einbruchstelle nach links abgekommen und auf Leute der Patrouille „Mitte“
gestoßen, die bei der Suche nach einer Lücke im englischen Drahthindernis zu
weit nach rechts geraten waren. Beide Parteien hatten sich gegenseitig für
Engländer gehalten und sich in den dem eigentlichen englischen Graben
vorgelagerten verlassenen Gräben gegenseitig mit Handgranaten und Spaten
angegriffen, wobei es zu Verlusten kam, ehe Leutnant Müh die Kämpfenden trennen
konnte.
Wertvolle Zeit war dadurch verloren gegangen.
Aber der Auftrag wurde trotzdem durchgeführt. Die Leutnants Müh, Cramer und
Mink mit den Offizierstellvertretern Stotz und Reck und noch etwa 20 Mann
brachen in die feindliche Stellung ein. Hier kam es mit den Engländern, die
bereits ihre Unterstände verlassen hatten, zu heftigen Nahkämpfen. Doch auch
hier wurde der Widerstand des Feindes restlos gebrochen, Gefangene und Beute
eingebracht. Bei der Rückkehr mußte die Patrouille, von dem außerordentlich
heftigen englischen Sperrfeuer gefaßt, noch 3 Stunden im Zwischengelände liegen,
ehe sie in ihre Ausgangsstellung zurückkehren konnte.
Der „Ausflug nach London“ bildete ein neues Ruhmesblatt in der Geschichte
des Regiments. Wohl waren die eigenen Verluste groß: 1 Offizier (Leutnant
Klein), 1 Offizier-Stellvertreter (Vizefeldwebel-Off.-Aspirant Spahr der 1.
M.-G.-Kompagnie, der sich im Gefecht am 30. Juni ausgezeichnet hatte), 11
Unteroffiziere und Mannschaften waren tot, 3 Offizierstellvertreter
(Vizefeldwebel und Off.-Aspirant Reck, Stoß, Betz) und 38 Unteroffiziere und
Mannschaften verwundet, 1 (Artillerist-Fernsprecher) vermißt, wahrscheinlich
gefallen. Sämtliche Tote und Verwundete wurden geborgen.
Der tapfere Leutnant Mink, im englischen Hindernis schwer verwundet,
arbeitete sich angesichts des Feindes am nächsten Tage mühsam und langsam
kriechend auf die eigene Stellung zurück und konnte erst nach langen 24 Stunden
geborgen werden. Die Engländer hatten wohl auf ihn geschossen, aber nicht den
Schneid gehabt, ihn in ihren Graben hereinzuholen.
Leutnant Klein war im englischen Graben gefallen. Seine Leute wollten nicht
dulden, daß die Leiche ihres Leutnants in Feindeshand falle. Sie hüllten ihn in
eine Zeltbahn und hoben ihn unter höchster Lebensgefahr über die etwa 2 Meter
hohe englische Brustwehr und trugen ihn mehrere hundert Meter in die eigene
Stellung zurück. Die Engländer sollten ihren Leutnant auch nicht als Leiche
haben! Ein ehrendes Zeugnis echt deutscher und schwäbischer Kameradentreue
gegen den beliebten Offizier!
An Gefangenen wurden 3 Offiziere (1 verwundet), 29 Unteroffiziere und
Mannschaften (1 verwundet) eingebracht. Reiche Beute wurde gemacht: 2
Maschinengewehre, die beide an der Stelle im Graben geholt wurden, wo sie in
unserer Stellungskarte verzeichnet waren, 9 Gewehre und zahlreiche sonstige
Gegenstände.“
aus:
„Das Württembergische Reserve-Inf.-Regiment Nr. 248 im Weltkrieg 1914–1918“, Stuttgart
1924
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