„Über seine Eindrücke als neu ins Feld gekommener Soldat schreibt der
Rekrut August Schmeh (11./246):
„In der Nordostecke des St. Pierre Vaast-Waldes an der Straße Manancourt –
Sailly-Saillisel „erholte“ sich das III. Bataillon von den Anstrengungen der
letzten Tage bei Bouchavesnes. Der Regen trug nicht dazu bei, den Kampfwert der
Truppe zu heben. Man sprach von Ablösung, aber statt Ablösung kam der Befehl zu
neuem Einsatz. Das Regiment sollte den Windmühlenberg, Höhe 145, zurückerobern.
Um sich etwas zu erwärmen und die Kleider zu trocknen, suchten wir von Zeit zu
Zeit die Gouver-nements-Ferme, in der Oberstabsarzt Dr. Gärtner seinen
Verbandsplatz aufgeschlagen hatte, auf. Der Weg dorthin lag voll toter Pferde,
zerrissener Gespanne und herrenlosem Kriegsmaterial. Jede Nacht forderte neue
Opfer von den dort entlang galoppierenden Kolonnen. Kurzum, eine Stätte des
Grauens.
Die 11. Kompagnie hatte im südwestlichen Teil des Waldes einen
Reservegraben auszuheben. Wald konnte man diesen Teil nicht mehr nennen, es war
nur noch ein Fläche mit kahlen abgeschossenen Stämmen, der Boden von Granaten
aufgewühlt, ein wirres Durcheinander von Ästen und Zweigen. Jeden Morgen bei
Tagesanbruch war die Kompagnie auf dem Weg zum Schanzen. So auch heute. Zuerst
eine kurze Zeit auf der Straße nach Rancourt. Am Waldrand in der Mitte der
Straße lag ein toter Radfahrer über seinem Fahrrade. Die gefüllte Tasche mit
Befehlen hatte er noch umgehängt. Tote Pferdeleiber versperrten den Weg. Am
Straßenrande sahen wir vier Opfer einer Granate. Im Abflußgraben der Straße
entlang, lagen ebenfalls mehrere Tote. Abgestumpft gingen wir weiter. Aus einem
Erdloch rief ein Posten: „Nicht weitergehen, die feindliche Artillerie ist hier
eingeschossen.“ Wir erreichten nun unsere Arbeitsstätte und begannen sofort mit
Schanzen. Als der Nebel sich verzogen hatte, erschienen feindliche Flieger,
bald darauf lag unser Arbeitsplatz unter dem Feuer der englischen und
französischen Granaten. Wir waren gezwungen, eiligst den Rückweg anzutreten.
der tote Radfahrer lag noch auf dem Wege. Wir legten ihn etwas abseits der
Straße, ihn zu beerdigen, war unmöglich.
Da am 20. September der Angriff auf Höhe 145 stattfinden sollte, lösten wir
während der Nacht vorne ab. Mit Bangen sahen wir dem Tag entgegen. Die
Gefechtsstärke der Kompagnie war infolge Ausfalle durch Tod, Verwundung und
Krankheit infolge schlechten Wetters sehr zurückgegangen. Durch das feindliche
Artilleriefeuer war alles in großer Nervosität, so daß man vielfach nicht
einmal die Nahrung zu sich nehmen konnte. Am Lagerplatz der Kompagnie hatte
sich daher ein ganzes Lager von Lebens-mitteln, wie Brot, Butter, Konservenbüchsen
angesammelt, alles vom Regen durchnäßt.
Der 20. September 1916 brach an. Kurz vor Tagesanbruch lösten wir unser II.
Bataillon ab und lagen nun in einem frisch ausgehobenen Graben, der vom Feinde
eingesehen werden konnte. Dieser Graben befand sich in einer Mulde, 50 Meter
vom Gegner entfernt. Eine Annäherung von hinten war bei Tage ausgeschlossen.
Mann an Mann standen wir im engen Graben, ohne jede Deckung. Das Feuer unserer
Artillerie begann mit einstündiger Verspätung um 8 Uhr vormittags. Es war sehr
schwach und verstummte bald wieder. Das niederdrückende Gefühl, daß unsere
Kameraden von der Artillerie wegen Munitionsmangel nicht mehr für uns tun
konnten, lastete auf uns allen. Nach Stunden höchster Aufregung war es 10 Uhr
geworden. Die Stunde des Angriffs!
Zum erstenmal befand ich mich in vorderer Linie und dazu gleich an einem
solchen Tage. Ich hielt mich daher an einen alten Kämpfer der 11. Kompagnie,
den Ersatz-reservisten Grunwald, an dessen Unerschrockenheit ich heute noch oft
denken muß. Als erste stiegen wir aus dem Graben, ein Hagel von Geschossen
schlug uns entgegen. Ein Vorwärtskommen war unmöglich. Grunwald wurde von drei
Schüssen getroffen. Er sank mit dem Ruf: „Zurück, es ist alles umsonst“ in den
Graben zurück. Zwei Schwer-verwundete blieben in einem Granatloch dicht an
unserem Graben liegen. Alle Versuche, sie zu retten, scheiterten an dem
heftigen Maschinengewehrfeuer. Der Versuch, einen kleinen Graben auszuheben uns
so an sie heranzukommen, wurde durch die feindliche Artillerie vereitelt. Noch
lange war das Stöhnen und Jammern der beiden Verwundeten zu hören, bis endlich
der Tod sie von ihren Qualen erlöste. Der Gegner nahm nu unseren Graben
planmäßig unter stärkstes Feuer. Größte Sorge bereiteten uns unsere
Verwundeten. Wir wußten nicht mehr, wohin wir sie legen sollten, um ihnen etwas
Schutz zu gewähren. Mit lautem Johlen und Lärmen begleitete der Gegner sein
Feuer. Man sah die Franzosen herumlaufen, ihre Maschinengewehre standen auf dem
Grabenrand. Wir befürchteten einen französischen Angriff. Um unsere mißliche
Lage nicht zu verraten, schossen wir wenigstens noch Lebenden was das Zeug
hielt. Von der linken Nachbarkompagnie kamen dem Feuer ausweichende Leute mit
dem Ruf: „Bei uns ist alles hin!“ Unser Graben war durch Artilleriefeuer
beinahe eingeebnet. Trotz Warnung unseres Kompagnieführers, Leutnant Pfister,
zog sich alles in einem kleinen Grabenstück, in dem ein Maschinengewehr stand,
zusammen. Bald hatte der Feind diesen Punkt erkannt. Heftigstes Artilleriefeuer
wurde von ihm dahin geleitet. Ein Volltreffer begrub alles dorthin Geflüchtete.
Des Gegners höhnisches Lachen hörten wir deutlich. Die Bergung ging nur langsam
und unter größter Lebensgefahr vor sich. Alle zu bergen war trotz größter Mühe
nicht möglich. Ein Landwehrmann, der vollständig zwischen Balken eingeklemmt
war, rief immer wieder: „5000 Mark demjenigen, der mich herausholt.“ Dem Musketier
Kircher gelang es endlich, den Verschütteten unter höchster Lebensgefahr zu
befreien. Ein erneuter Volltreffer machte dem Jammer der restlichen
Verschütteten ein Ende. Pulverdampf lagerte wie dichter Nebel auf unserer
Stellung. Verlassen und abgeschnitten warteten wir auf den Abend, nur langsam
vergingen die Stunden. Neben uns lagen Schwerverwundete, die Zähne aufeinander
gebissen, und ersehnten den Abtransport. Kurz vor Einbruch der Dämmerung setzte
nochmals wütendes Artilleriefeuer ein. Unsere Munition war erschöpft,
krampfhaft umklammerten wir unsere letzten Handgranaten. Der von uns erwartete
französische Angriff kam jedoch nicht. Nach Einbruch der Dunkelheit gingen die
marschfähigen Verwundeten zurück. Leutnant Pfister begab sich zum
Bataillonsgefechtsstand um sich für die Ablösung der ermatteten Kompagnie
einzusetzen. Zu zweit, mit vielen Schwer-verwundeten, beobachteten wir aus
unserem kleinen Grabenstück den Feind. Plötzlich drang von links lebhaftes
Gewehrfeuer und Geschrei zu uns herüber. „Was ist denn dort los?“ Der
Meldegänger Jäger war, vom Bataillonsgefechtsstand kommend, über eine
unbesetzte Stelle unserer vorderen Linie hinweg auf die französische Stellung
zuge-rannt. Unmittelbar vor derselben erkannte er jedoch seinen Irrtum. Er
sprang zurück und direkt auf zwei unserer Posten zu. Diese hielten ihn in der
Nacht für einen Franzosen und zogen ihre Handgranaten ab. Jäger gab sich im
letzten Augenblick zu erkennen. In ihrer Aufregung behielten die beiden ihre
Handgranaten in der Hand. Ein Krach, und das Unglück war geschehen. Die beiden
letzten Toten der 11. Kompagnie an der Somme ereilte ihr Heldenschicksal! Wir
wurden in der gleichen Nacht noch abgelöst und trugen nach der Ablösung unsere
verwundeten Kameraden auf der Straße nach Rancourt zurück. Groß war unser
Erstaunen, als wir auf der Straße einen Sanitätswagen antrafen, der uns unsere
Verwundeten abnahm. Ein Bravo diesem tüchtigen Fahrer, der es gewagt hatte, bis
dicht hinter die vordere Linie zu fahren und seinen Kameraden Hilfe zu bringen.
Zwölf Mann rückten unverwundet aus der vorderen Linie ab, das war der Rest
der 11. Kompagnie. Wie wir hinten erfuhren, hatte man uns tagsüber bereits
aufgegeben, weil man nicht glauben konnte, daß in unserer gefährdeten Lage noch
einer mit dem Leben davonkommen konnte.““
aus:
„Das Württembergische Reserve-Inf.-Regiment Nr. 246 im Weltkrieg 1914–1918“,
Stuttgart 1931
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