„Dantes Hölle
in Rußland.
Alle Schrecken,
alle schauderhaften Schilderungen über die Lage der Kriegsgefangenen in Rußland werden übertroffen durch einwandfreie
Berichte, die von wenigen, glücklich den Orten des Grauens entflohenen
Gefangenen erstattet und erst unlängst zur Kenntnis der deutschen Regierung
gelangt sind.
In den ungeheuren
Gebieten Rußlands gibt es weite Landstrecken, in die noch nie während des
Krieges der Fuß eines Neutralen gedrungen ist.
Der Vorwand „Militärische
Rücksichten“ bildet den Riegel, um diese Welt abzuschlies-sen von jeder Kontrolle
durch Neutrale, von jeder Liebestätigkeit, von jeder Aufsicht.
Preisgegeben
schändlichen Blutsaugern von Unternehmern, nicht bewacht, sondern wie Sklaven
geknechtet von unkultivierten Horden von Tscherkessen und Kosaken, gehen in den
Distrikten an der Olonetz – Murman
Eisenbahn und im Gouvernement
Wjatka Tausende von deutschen und österreichischen Kriegs- und
Zivilgefangenen unter so grauenhaften Umständen dem sicheren Tode entgegen, daß
der menschliche Geist sich sträubt, von diesem Elend sich eine Vorstellung zu
machen. In der Tat, wenn es eine Hölle auf Erden gibt:
Dort ist die Hölle!
Ein kurzer Auszug
aus den umfangreichen Berichten wird dies bestätigen:
An der Olonetz – Murmanbahn
arbeiten Tausende armer Menschen, die als Helden für ihr Vaterland gekämpft
haben, halbnackt, bei Tag und bei Nacht, im Winter bei einer Kälte von oft mehr
als 40° Reaumur, unbarmherzig zur Arbeit getrieben, bis sie unter qualvollen
Schmerzen zusammenbrechen, um ihr Leben unter den Streichen der entmenschten Peiniger
auszuhauchen. Durch Urwald und tiefen Sumpf wird die Bahn gebaut. Die
Gefangenen, die dorthin geschleppt wurden, sind in Hütten oder Baracken untergebracht,
die so niedrig sind, daß ein Aufrichten auf der Holzpritsche, auf der sie ohne
Stroh oder Decke liegen, nicht möglich ist. Fenster sind nicht vorhanden, eine Lüftung
der Räume wird lediglich durch das schadhafte Dach ermöglicht, durch das Regen
eindringt. Alles wird durchnäßt, und die frierenden Leute sind den schwersten Erkrankungen
preisgegeben. Kleidung, Wäsche und Schuhe erhalten die Gefangenen nicht, sodaß
alle in Lumpen und Fetzen gehüllt sind, durch die man den bloßen Körper sieht.
Oft barfuß, im Winter bei strengster Kälte, müssen sie in Sümpfen arbeiten, die
im Frühjahr und Sommer todbringende Dünste ausströmen. Die schlechte und
gänzlich ungenügende Ernährung hat schwere Krankheiten zur Folge. Von den ersten 15 000 Mann, die dorthin
geschafft wurden, starben Tausende im Laufe des Sommers; die noch
lebenden sind infolge ihrer Krankheiten kaum noch wandelnde Leichen zu nennen. Die
neu hinzukommenden Gefangenen werden durch die Kranken angesteckt; kaum eine
einzige Baracke ist vorhanden, in der nicht Lungenkranke langsam dahinsiechen oder
in der durch schrecklich blutende und eiternde Skorbut-wunden entstellte Menschen
das Entsetzen und Mitleid herausfordern. Ein eigentliches Krankenhaus ist auf
dem ganzen ausgedehnten Gebiet nicht vorhanden. Alle 100 km wohnt ein Arzt; dieser
soll Tausende von Menschen behandeln! So liegen die an schwerem Rheumatismus und
Lungenschwindsucht leidenden und mit Wunden bedeckten Menschen monatelang auf
nackten Brettern, ohne Hilfe! Menschen, deren Lippen und Gaumen zerplatzt sind
und bluten – bei manchen können sogar die gesunden Zähne mit den Fingern leicht
herausgenommen werden – erhalten keine andere Kost als hartes Schwarzbrot und Kohlsuppe,
bis sie der Tod aus ihrer schreckli-chen Lage erlöst.
Die Sterblichkeit
unter diesen elendesten aller Menschen ist ungeheuer groß. Die Toten werden,
oft erst nach Tagen, im Winter nach Monden, nackt wie Holz auf einen Wagen geladen
und in den Wald gefahren, wo sie namenlos verscharrt werden.
Die Arbeitszeit dauert, auch an Sonn- und
Feiertagen, von morgens 4 ½ bis 8 Uhr abends
ohne Ruhepause. Wehe dem Armen, der nur einen Augenblick ausruhen will! Unbarmherzig
sausen die Peitschen der Tscherkessen und der entmenschten Arbeitgeber auf den
Unglücklichen nieder, bis er ohnmächtig, oft tot liegen bleibt. „Man wird buch-stäblich zu Tode geprügelt!“
sagt ein Zeuge.
Der Arbeitgeber
Anapolski hat verschiedene derartige Morde auf dem Gewissen. Mit Geschwüren bedeckte und kranke Gefangene werden
unter seiner Aufsicht mit Peitschenhieben zur Arbeit getrieben und dazu noch
von den Juden Winnik und Friedmann um ihren Lohn betrogen. Beinahe noch
schlimmer als diese treibt es der Arbeitgeber Bondarenko, von dem wir später
noch hören werden. In Janimpol ist der Wärter Kiste berüchtigt. Einer der
Landesvorsteher hat den Tscherkessen befohlen, die Kriegsgefangenen so viel als
möglich zu prügeln; er drohte den Aufsehern mit den Worten: „Wenn Ihr die
Gefangenen nicht schlagt, werde ich Euch prügeln!“
Zu den mit
Peitschenhieben zur Arbeit getriebenen, schwerkranken Gefangenen sagte der
Arbeitsvorsteher Gustin: „Ich werde Euch hier alle gesund machen, bis Ihr
krepiert.“
Eine Bestie in
Menschengestalt ist der Arbeitgeber Musikow. Nicht nur, daß er die armen
Menschen zu Krüppeln prügeln läßt, betrügt er sie zu seinem Vorteil noch um ihr
kärgliches Essen. In Kaniselja werden die Gefangenen fast nackt zur Arbeit getrieben, sodaß Arme und Beine erfrieren und
schwarz werden. Als solche Leute dann starben, sagte der Arbeitgeber
Bogdanow zu den Kriegsgefangenen: „Es ist für Euch besser, wenn Ihr bei der
Arbeit krepiert als in den Baracken.“ Gleich gräßlich sind Zustände und
Behandlung der Kriegsgefangenen auf allen anderen Arbeitsstellen; nicht weniger
grauenhaft wird in Masselnaja, Medweje-Gora, Sorcka, in Kem und auf der Strecke
nach Schuja verfahren.
Noch schlimmere
Zustände herrschen auf den zu den Ischewwerken gehörenden Förstereien, die der
Leitung des Generals Alexander Grigorjewitsch Dubnitzki unter-stehen. Auf diesen
haben es die Vorsteher Iwan Waslawitsch und Michael Feodoro-witsch Babuschkin,
mit ihren Gehilfen und Kreaturen, Leutnant Alexander Frjasinow und Alexander
Platonowitsch Gorschkow, so toll getrieben, daß sich sogar russische Soldaten geweigert
haben, weiterhin dort Dienst zu tun, weil sie die Scheußlichkeiten nicht mehr
mit ansehen konnten.
Die Gefangenen
haben auch hier auf dem ganzen Körper schreckliche Wunden, die von Ungeziefer
wimmeln. Wasser gibt es nicht, waschen müssen sich die Leute mit schmutzigem Schnee.
Dysenterie und Hungertyphus wüten hier
in schrecklicher Weise. Ohne ärztliche Behandlung, auf Pritschen ohne
Decken, ohne Wäsche liegen hier zum Teil mit eiternden und ausgeflossenen
Augen, abgefrorenen und abgefallenen Gliedern, mit gebrochenen Rippen,
dazwischen Geistesgestörte, im ganzen 240 Kriegsgefangene in einem Raum, der
nur für 50 oder 60 Mann Platz bietet.
Die grundlos
verhängten Strafen sind so barbarisch, daß selbst die russischen Land-sturmleute
es eher vorziehen, an die Front geschickt zu werden, als die Henkersknechte dieser
Scheusale zu spielen. Namen und Wohnort dieser Soldaten sind bekannt.
So ließ Babuschkin
einmal 250 Gefangene mit Peitschen in einen Raum hineinprügeln, der kaum 100
Menschen faßte. Türen und Fenster wurden mit Brettern vernagelt. In dieser Lage
mußten die Ärmsten in schwerster Hitze 26
Stunden ohne Nahrung oder Wasser aushalten. Der größte Teil der schon
vorher kranken Menschen war beim Öffnen der Baracke bewußtlos, die anderen
wurden in unmenschlicher Weise verprügelt. Eine andere Strafe ist das
Einsperren in einer tiefen nassen Erdgrube, in der die Leute ohne jedes Licht
mehrere Tage mit einem Stück Brot und Wasser aushalten müssen. Gorschkow selbst
hat Leute mit Eisenstangen ins Gesicht geschlagen. Eine ganze Reihe von Namen
und Adressen von Zeugen ist bekannt, die bestätigen können, in welch
scheußlicher und gemeiner Weise die Kriegsgefangenen dort behandelt werden. Diese
Leute bestätigen sogar, daß die Gefangenen sich genötigt sahen, das Fleisch krepierter Hunde zu essen,
wenn sie nicht einfach verhungern wollten. Hier Abhilfe zu schaffen, ist
General Dubnitzki weder fähig, noch hat er hierzu den guten Willen. Im Gegenteil,
Leute, die sich über diese unmenschliche Behandlung zu beschweren wagen, werden
einfach ermordet oder verschwinden spurlos.
Den Sammelort für
alle jene Unglücklichen, die wegen vollständiger Arbeitsunfähigkeit von den
Arbeitsstellen an der Murmanbahn zurücktransportiert sind, bildet Kotelnitsch im
Gouvernement Wjatka. Hunderte von schwerkranken Menschen liegen dort in einem fürchterlichen
Zustande in den drei sogenannten
Hospitälern. Zu Krüppeln geschlagene Menschen mit abgefrorenen Händen,
Füßen, Ohren und Nasen warten ohne jede ärztliche Hilfe auf den Tod. An Stelle
der Hände haben manche nur noch schwarze Knochenstümpfe. In solchem Zustand
wurden diese Ärmsten von den Arbeitsstellen geschickt. In diese Hospitäler, in
denen die Gefangenen noch hilf- und rechtloser sind als auf den Arbeitsstellen,
werden auf unendlich langem Bahntransport nur die Allerunglücklichsten gebracht.
In ungeheizte Viehwagen werden Schwerkranke ohne Stroh und Decken hineingestopft,
so daß es vorgekommen ist, daß der größte Teil dieser im Sterben liegenden Menschen
das Ziel überhaupt nie erreicht hat. Die Leichen wurden durch die Wachmannschaften
einfach zum Wagen hinausgeworfen. Andere Gefangene werden auf dem Transport wie
Holz quer über einen Wagen gelegt und herangefahren. Wenn gar die Schlitten
oder Wagen bei den äußerst schlechten Wegeverhältnissen umkippen, dann wird die
stöhnende und schreiende Last von den entmenschten Wächtern ohne jede Rücksicht
in roher Weise wieder aufgepackt. Nach den Aussagen des Arztes hat kaum einer
dieser unglücklichen Menschen die Aussicht, mit dem Leben davonzukommen; denn
Flecktyphus, Dysenterie und andere Infektionskrankheiten nehmen so schnell
überhand, daß nach dem eigenen Ausspruch dieses Arztes 90% der Belegstärke eines solchen Lazarettes in kürzester Zeit stirbt.
Solange einer
dieser schwerkranken Menschen überhaupt noch bewegungsfähig ist, wird er selbst
hier noch mit Kolbenschlägen und Peitschenhieben unbarmherzig zur Arbeit
getrieben. Auch in anderen Orten des Gouvernements Wjatka herrschen empörende Zustände,
Im Orlowschen Kreise ist sogar der frühere Geistliche und jetzige Polizeibeamte
Miljutin für die grausame Behandlung, die er den Kriegsgefangenen angedeihen läßt,
als „sehr tüchtiger Beamter“ ausgezeichnet worden. Ein ganz fürchter-liches Regiment
herrscht auch bei den Arbeitgebern Bondarenko und Musjukow, die nebst ihren
Gehilfen Kostrakow und Sokolow als wahre Bestien in Menschengestalt hausen und
die rohen und unbarmherzigen Tscherkessen zu immer größeren Grausam-keiten antreiben.
Nur den unerhörten Quälereien dieser Kreaturen ist es zuzuschreiben, daß dort
täglich bis zu 30 Mann unter Knutenhieben sterben.
In der Stadt
Jaransk wütet der Hauptmann Barduschewski. Die ihm unterstellten kriegs-gefangenen Offiziere sind in
einem engen, jeder Beschreibung spottenden Raum eingesperrt, den sie nur morgens
in der Zeit von 9 bis 10 Uhr verlassen dürfen. Die Fenster müssen bei Androhung
strengster Strafen im Übertretungsfalle stets geschlossen bleiben. Auch dort
peinigt die Wachmannschaft die Leute durch fortwährendes Schlagen und Peitschen
bis aufs Blut. In Urgum sind infolge der fürchterlichen hygienischen Zustände
und mangels ärztlicher Fürsorge im
Laufe zweier Monate 3 000 Gefangene an Typhus gestorben.
In der früher für
Verbannte bestimmten Sumpfgegend von Slobotsk sind etwa 4 000 Kriegsgefangene
unter den unglaublichsten Verhältnissen untergebracht; in dem Orte Poloma hat
der Polizeivorsteher Kalistow öffentlich erklärt, daß die Kriegsgefangenen Feinde seien, und daß man sie daher wie Hunde
erschlagen solle. Für jedes kleine Vergehen werden sie, mit einem Strick
um den Hals, in das Gefängnis geschleppt. Auf der Fabrik Belochonitzschen
Rayons ist es sogar mehrmals vorgekommen, daß auf Anstiften des
Polizeivorstehers Prisajew Kriegsgefangene ermordet und eine größere Anzahl von
ihnen durch betrunkene Wachleute schwer verwundet worden sind.
Der Kommandant des Moskauer Militärbezirkes Sandetzki hat durch
öffentlichen Befehl aufs strengste verboten, Kriegsgefangene, insbesondere aber
Offiziere, mensch-lich zu behandeln. Daher kann es nicht weiter wunder nehmen,
wenn der Rat bei der Gouvernementsverwaltung, Pastschewski, der größte Unmensch im Gouvernement Wjatka, willkürlich
über Leben und Tod gebietet, und daß seine Unterorgane mit ihm selbst darin
wetteifern, die Kriegsgefangenen auf die
unmenschlichste Art langsam zu Tode zu quälen.
Noch viele
Einzelheiten, noch viele Namen könnten aufgeführt werden. Alle geben das gleiche
Bild der verbrecherischen russischen Verwaltung. Unbekümmert um etwaige Folgen,
hat die russische Regierung viele Monate lang die Dinge ihren Lauf nehmen lassen.
Erst in allerneuester Zeit scheint sie sich auf dringende Vorstellung ihrer Verantwortung
bewußt geworden zu sein. Werden die in Aussicht genommenen Besser-ungen wirklich
durchgeführt? Werden sie von Dauer sein? Wer will es feststellen? Wer davon
Kunde bringen?
Eines soll die
russische Regierung bedenken, ehe sie fortfährt, durch gänzliche Mißach-tung der
Gesetze der Menschlichkeit viele Tausende von Gefangenen zu vernichten: Eine
jede Schuld rächt sich auf Erden! Die Gerechtigkeit schreit zum Himmel. Noch niemals
ist in der Weltgeschichte solche Bestialität vorgekommen.
Das öffentliche
Gewissen der Welt wird aufgerufen werden gegen eine Regierung und ein Land, wo
solche Scheußlichkeiten sich ereignen.
Auch aus den
Knochen dieser armen hingemordeten Gefangenen wird einst ein Rächer erstehen.
Die Behandlung der Kriegsgefangenen in diesem Kriege wird für Rußland ein ewiger
Schandfleck bleiben. Mit Abscheu und Empörung sollte sich die ganze
zivili-sierte Menschheit von solchem Lande abwenden.
Die deutsche Regierung hat gegen diese furchtbaren Zustände bei der
russischen Regierung energischen Einspruch erhoben und unverzügliche Abstellung gefordert.
Der russischen Regierung ist ferner mitgeteilt worden, daß, wenn bis zu einem
bestimmten Zeitpunkt keine befriedigende Antwort eingetroffen ist, die deutsche Regierung Gegen-maßregeln ergreifen
wird. Außerdem sind bedeutende
Geldmittel zur Linderung der Not an die Schutzmächte in Petersburg überwiesen
worden.“
aus: „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ Berlin,
30. August 1916
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