Sonntag, 25. Dezember 2016

25. Dezember 1916


„Dantes Hölle in Rußland.

Alle Schrecken, alle schauderhaften Schilderungen über die Lage der Kriegsgefangenen in Rußland werden übertroffen durch einwandfreie Berichte, die von wenigen, glücklich den Orten des Grauens entflohenen Gefangenen erstattet und erst unlängst zur Kenntnis der deutschen Regierung gelangt sind.
In den ungeheuren Gebieten Rußlands gibt es weite Landstrecken, in die noch nie während des Krieges der Fuß eines Neutralen gedrungen ist.
Der Vorwand „Militärische Rücksichten“ bildet den Riegel, um diese Welt abzuschlies-sen von jeder Kontrolle durch Neutrale, von jeder Liebestätigkeit, von jeder Aufsicht.
Preisgegeben schändlichen Blutsaugern von Unternehmern, nicht bewacht, sondern wie Sklaven geknechtet von unkultivierten Horden von Tscherkessen und Kosaken, gehen in den Distrikten an der Olonetz – Murman Eisenbahn und im Gouvernement Wjatka Tausende von deutschen und österreichischen Kriegs- und Zivilgefangenen unter so grauenhaften Umständen dem sicheren Tode entgegen, daß der menschliche Geist sich sträubt, von diesem Elend sich eine Vorstellung zu machen. In der Tat, wenn es eine Hölle auf Erden gibt:
Dort ist die Hölle!
Ein kurzer Auszug aus den umfangreichen Berichten wird dies bestätigen:
An der Olonetz – Murmanbahn arbeiten Tausende armer Menschen, die als Helden für ihr Vaterland gekämpft haben, halbnackt, bei Tag und bei Nacht, im Winter bei einer Kälte von oft mehr als 40° Reaumur, unbarmherzig zur Arbeit getrieben, bis sie unter qualvollen Schmerzen zusammenbrechen, um ihr Leben unter den Streichen der entmenschten Peiniger auszuhauchen. Durch Urwald und tiefen Sumpf wird die Bahn gebaut. Die Gefangenen, die dorthin geschleppt wurden, sind in Hütten oder Baracken untergebracht, die so niedrig sind, daß ein Aufrichten auf der Holzpritsche, auf der sie ohne Stroh oder Decke liegen, nicht möglich ist. Fenster sind nicht vorhanden, eine Lüftung der Räume wird lediglich durch das schadhafte Dach ermöglicht, durch das Regen eindringt. Alles wird durchnäßt, und die frierenden Leute sind den schwersten Erkrankungen preisgegeben. Kleidung, Wäsche und Schuhe erhalten die Gefangenen nicht, sodaß alle in Lumpen und Fetzen gehüllt sind, durch die man den bloßen Körper sieht. Oft barfuß, im Winter bei strengster Kälte, müssen sie in Sümpfen arbeiten, die im Frühjahr und Sommer todbringende Dünste ausströmen. Die schlechte und gänzlich ungenügende Ernährung hat schwere Krankheiten zur Folge. Von den ersten 15 000 Mann, die dorthin geschafft wurden, starben Tausende im Laufe des Sommers; die noch lebenden sind infolge ihrer Krankheiten kaum noch wandelnde Leichen zu nennen. Die neu hinzukommenden Gefangenen werden durch die Kranken angesteckt; kaum eine einzige Baracke ist vorhanden, in der nicht Lungenkranke langsam dahinsiechen oder in der durch schrecklich blutende und eiternde Skorbut-wunden entstellte Menschen das Entsetzen und Mitleid herausfordern. Ein eigentliches Krankenhaus ist auf dem ganzen ausgedehnten Gebiet nicht vorhanden. Alle 100 km wohnt ein Arzt; dieser soll Tausende von Menschen behandeln! So liegen die an schwerem Rheumatismus und Lungenschwindsucht leidenden und mit Wunden bedeckten Menschen monatelang auf nackten Brettern, ohne Hilfe! Menschen, deren Lippen und Gaumen zerplatzt sind und bluten – bei manchen können sogar die gesunden Zähne mit den Fingern leicht herausgenommen werden – erhalten keine andere Kost als hartes Schwarzbrot und Kohlsuppe, bis sie der Tod aus ihrer schreckli-chen Lage erlöst.
Die Sterblichkeit unter diesen elendesten aller Menschen ist ungeheuer groß. Die Toten werden, oft erst nach Tagen, im Winter nach Monden, nackt wie Holz auf einen Wagen geladen und in den Wald gefahren, wo sie namenlos verscharrt werden.
Die Arbeitszeit dauert, auch an Sonn- und Feiertagen, von morgens 4 ½ bis 8 Uhr abends ohne Ruhepause. Wehe dem Armen, der nur einen Augenblick ausruhen will! Unbarmherzig sausen die Peitschen der Tscherkessen und der entmenschten Arbeitgeber auf den Unglücklichen nieder, bis er ohnmächtig, oft tot liegen bleibt. „Man wird buch-stäblich zu Tode geprügelt!“ sagt ein Zeuge.
Der Arbeitgeber Anapolski hat verschiedene derartige Morde auf dem Gewissen. Mit  Geschwüren bedeckte und kranke Gefangene werden unter seiner Aufsicht mit Peitschenhieben zur Arbeit getrieben und dazu noch von den Juden Winnik und Friedmann um ihren Lohn betrogen. Beinahe noch schlimmer als diese treibt es der Arbeitgeber Bondarenko, von dem wir später noch hören werden. In Janimpol ist der Wärter Kiste berüchtigt. Einer der Landesvorsteher hat den Tscherkessen befohlen, die Kriegsgefangenen so viel als möglich zu prügeln; er drohte den Aufsehern mit den Worten: „Wenn Ihr die Gefangenen nicht schlagt, werde ich Euch prügeln!“
Zu den mit Peitschenhieben zur Arbeit getriebenen, schwerkranken Gefangenen sagte der Arbeitsvorsteher Gustin: „Ich werde Euch hier alle gesund machen, bis Ihr krepiert.“
Eine Bestie in Menschengestalt ist der Arbeitgeber Musikow. Nicht nur, daß er die armen Menschen zu Krüppeln prügeln läßt, betrügt er sie zu seinem Vorteil noch um ihr kärgliches Essen. In Kaniselja werden die Gefangenen fast nackt zur Arbeit getrieben, sodaß Arme und Beine erfrieren und schwarz werden. Als solche Leute dann starben, sagte der Arbeitgeber Bogdanow zu den Kriegsgefangenen: „Es ist für Euch besser, wenn Ihr bei der Arbeit krepiert als in den Baracken.“ Gleich gräßlich sind Zustände und Behandlung der Kriegsgefangenen auf allen anderen Arbeitsstellen; nicht weniger grauenhaft wird in Masselnaja, Medweje-Gora, Sorcka, in Kem und auf der Strecke nach Schuja verfahren.
Noch schlimmere Zustände herrschen auf den zu den Ischewwerken gehörenden Förstereien, die der Leitung des Generals Alexander Grigorjewitsch Dubnitzki unter-stehen. Auf diesen haben es die Vorsteher Iwan Waslawitsch und Michael Feodoro-witsch Babuschkin, mit ihren Gehilfen und Kreaturen, Leutnant Alexander Frjasinow und Alexander Platonowitsch Gorschkow, so toll getrieben, daß sich sogar russische Soldaten geweigert haben, weiterhin dort Dienst zu tun, weil sie die Scheußlichkeiten nicht mehr mit ansehen konnten.
Die Gefangenen haben auch hier auf dem ganzen Körper schreckliche Wunden, die von Ungeziefer wimmeln. Wasser gibt es nicht, waschen müssen sich die Leute mit schmutzigem Schnee. Dysenterie und Hungertyphus wüten hier in schrecklicher Weise. Ohne ärztliche Behandlung, auf Pritschen ohne Decken, ohne Wäsche liegen hier zum Teil mit eiternden und ausgeflossenen Augen, abgefrorenen und abgefallenen Gliedern, mit gebrochenen Rippen, dazwischen Geistesgestörte, im ganzen 240 Kriegsgefangene in einem Raum, der nur für 50 oder 60 Mann Platz bietet.
Die grundlos verhängten Strafen sind so barbarisch, daß selbst die russischen Land-sturmleute es eher vorziehen, an die Front geschickt zu werden, als die Henkersknechte dieser Scheusale zu spielen. Namen und Wohnort dieser Soldaten sind bekannt.
So ließ Babuschkin einmal 250 Gefangene mit Peitschen in einen Raum hineinprügeln, der kaum 100 Menschen faßte. Türen und Fenster wurden mit Brettern vernagelt. In dieser Lage mußten die Ärmsten in schwerster Hitze 26 Stunden ohne Nahrung oder Wasser aushalten. Der größte Teil der schon vorher kranken Menschen war beim Öffnen der Baracke bewußtlos, die anderen wurden in unmenschlicher Weise verprügelt. Eine andere Strafe ist das Einsperren in einer tiefen nassen Erdgrube, in der die Leute ohne jedes Licht mehrere Tage mit einem Stück Brot und Wasser aushalten müssen. Gorschkow selbst hat Leute mit Eisenstangen ins Gesicht geschlagen. Eine ganze Reihe von Namen und Adressen von Zeugen ist bekannt, die bestätigen können, in welch scheußlicher und gemeiner Weise die Kriegsgefangenen dort behandelt werden. Diese Leute bestätigen sogar, daß die Gefangenen sich genötigt sahen, das Fleisch krepierter Hunde zu essen, wenn sie nicht einfach verhungern wollten. Hier Abhilfe zu schaffen, ist General Dubnitzki weder fähig, noch hat er hierzu den guten Willen. Im Gegenteil, Leute, die sich über diese unmenschliche Behandlung zu beschweren wagen, werden einfach ermordet oder verschwinden spurlos.
Den Sammelort für alle jene Unglücklichen, die wegen vollständiger Arbeitsunfähigkeit von den Arbeitsstellen an der Murmanbahn zurücktransportiert sind, bildet Kotelnitsch im Gouvernement Wjatka. Hunderte von schwerkranken Menschen liegen dort in einem fürchterlichen Zustande in den drei sogenannten Hospitälern. Zu Krüppeln geschlagene Menschen mit abgefrorenen Händen, Füßen, Ohren und Nasen warten ohne jede ärztliche Hilfe auf den Tod. An Stelle der Hände haben manche nur noch schwarze Knochenstümpfe. In solchem Zustand wurden diese Ärmsten von den Arbeitsstellen geschickt. In diese Hospitäler, in denen die Gefangenen noch hilf- und rechtloser sind als auf den Arbeitsstellen, werden auf unendlich langem Bahntransport nur die Allerunglücklichsten gebracht. In ungeheizte Viehwagen werden Schwerkranke ohne Stroh und Decken hineingestopft, so daß es vorgekommen ist, daß der größte Teil dieser im Sterben liegenden Menschen das Ziel überhaupt nie erreicht hat. Die Leichen wurden durch die Wachmannschaften einfach zum Wagen hinausgeworfen. Andere Gefangene werden auf dem Transport wie Holz quer über einen Wagen gelegt und herangefahren. Wenn gar die Schlitten oder Wagen bei den äußerst schlechten Wegeverhältnissen umkippen, dann wird die stöhnende und schreiende Last von den entmenschten Wächtern ohne jede Rücksicht in roher Weise wieder aufgepackt. Nach den Aussagen des Arztes hat kaum einer dieser unglücklichen Menschen die Aussicht, mit dem Leben davonzukommen; denn Flecktyphus, Dysenterie und andere Infektionskrankheiten nehmen so schnell überhand, daß nach dem eigenen Ausspruch dieses Arztes 90% der Belegstärke eines solchen Lazarettes in kürzester Zeit stirbt.
Solange einer dieser schwerkranken Menschen überhaupt noch bewegungsfähig ist, wird er selbst hier noch mit Kolbenschlägen und Peitschenhieben unbarmherzig zur Arbeit getrieben. Auch in anderen Orten des Gouvernements Wjatka herrschen empörende Zustände, Im Orlowschen Kreise ist sogar der frühere Geistliche und jetzige Polizeibeamte Miljutin für die grausame Behandlung, die er den Kriegsgefangenen angedeihen läßt, als „sehr tüchtiger Beamter“ ausgezeichnet worden. Ein ganz fürchter-liches Regiment herrscht auch bei den Arbeitgebern Bondarenko und Musjukow, die nebst ihren Gehilfen Kostrakow und Sokolow als wahre Bestien in Menschengestalt hausen und die rohen und unbarmherzigen Tscherkessen zu immer größeren Grausam-keiten antreiben. Nur den unerhörten Quälereien dieser Kreaturen ist es zuzuschreiben, daß dort täglich bis zu 30 Mann unter Knutenhieben sterben.
In der Stadt Jaransk wütet der Hauptmann Barduschewski. Die ihm unterstellten kriegs-gefangenen Offiziere sind in einem engen, jeder Beschreibung spottenden Raum eingesperrt, den sie nur morgens in der Zeit von 9 bis 10 Uhr verlassen dürfen. Die Fenster müssen bei Androhung strengster Strafen im Übertretungsfalle stets geschlossen bleiben. Auch dort peinigt die Wachmannschaft die Leute durch fortwährendes Schlagen und Peitschen bis aufs Blut. In Urgum sind infolge der fürchterlichen hygienischen Zustände und mangels ärztlicher Fürsorge im Laufe zweier Monate 3 000 Gefangene an Typhus gestorben.
In der früher für Verbannte bestimmten Sumpfgegend von Slobotsk sind etwa 4 000 Kriegsgefangene unter den unglaublichsten Verhältnissen untergebracht; in dem Orte Poloma hat der Polizeivorsteher Kalistow öffentlich erklärt, daß die Kriegsgefangenen Feinde seien, und daß man sie daher wie Hunde erschlagen solle. Für jedes kleine Vergehen werden sie, mit einem Strick um den Hals, in das Gefängnis geschleppt. Auf der Fabrik Belochonitzschen Rayons ist es sogar mehrmals vorgekommen, daß auf Anstiften des Polizeivorstehers Prisajew Kriegsgefangene ermordet und eine größere Anzahl von ihnen durch betrunkene Wachleute schwer verwundet worden sind.
Der Kommandant des Moskauer Militärbezirkes Sandetzki hat durch öffentlichen Befehl aufs strengste verboten, Kriegsgefangene, insbesondere aber Offiziere, mensch-lich zu behandeln. Daher kann es nicht weiter wunder nehmen, wenn der Rat bei der Gouvernementsverwaltung, Pastschewski, der größte Unmensch im Gouvernement Wjatka, willkürlich über Leben und Tod gebietet, und daß seine Unterorgane mit ihm selbst darin wetteifern, die Kriegsgefangenen auf die unmenschlichste Art langsam zu Tode zu quälen.
Noch viele Einzelheiten, noch viele Namen könnten aufgeführt werden. Alle geben das gleiche Bild der verbrecherischen russischen Verwaltung. Unbekümmert um etwaige Folgen, hat die russische Regierung viele Monate lang die Dinge ihren Lauf nehmen lassen. Erst in allerneuester Zeit scheint sie sich auf dringende Vorstellung ihrer Verantwortung bewußt geworden zu sein. Werden die in Aussicht genommenen Besser-ungen wirklich durchgeführt? Werden sie von Dauer sein? Wer will es feststellen? Wer davon Kunde bringen?
Eines soll die russische Regierung bedenken, ehe sie fortfährt, durch gänzliche Mißach-tung der Gesetze der Menschlichkeit viele Tausende von Gefangenen zu vernichten: Eine jede Schuld rächt sich auf Erden! Die Gerechtigkeit schreit zum Himmel. Noch niemals ist in der Weltgeschichte solche Bestialität vorgekommen.
Das öffentliche Gewissen der Welt wird aufgerufen werden gegen eine Regierung und ein Land, wo solche Scheußlichkeiten sich ereignen.
Auch aus den Knochen dieser armen hingemordeten Gefangenen wird einst ein Rächer erstehen. Die Behandlung der Kriegsgefangenen in diesem Kriege wird für Rußland ein ewiger Schandfleck bleiben. Mit Abscheu und Empörung sollte sich die ganze zivili-sierte Menschheit von solchem Lande abwenden.
Die deutsche Regierung hat gegen diese furchtbaren Zustände bei der russischen Regierung energischen Einspruch erhoben und unverzügliche Abstellung gefordert. Der russischen Regierung ist ferner mitgeteilt worden, daß, wenn bis zu einem bestimmten Zeitpunkt keine befriedigende Antwort eingetroffen ist, die deutsche Regierung Gegen-maßregeln ergreifen wird. Außerdem sind bedeutende Geldmittel zur Linderung der Not an die Schutzmächte in Petersburg überwiesen worden.“


aus: „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ Berlin, 30. August 1916

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen