Freitag, 10. November 2017

10. November 1917


„Wir fügen hier eine Schilderung des Kriegsfreiwilligen Ludwig Hörauf ein, der den Marsch der Kompagnie nach Col. San Martino wie folgt beschrieb:
„In Miane hatten wir uns auf einem Heuboden ein ganz annehmbares Lager für die Nacht zurecht gemacht. Morgen sollte es also an den Feind gehen – an die Piave, oder wie das Ding sonst heißen mochte! Während ich mich auf meinem Lager ausstreckte, hörte ich noch so halb ein Gespräch meiner Nachbarn, die sich über die Breite dieses Flusses unterhielten. Ich schlief darüber ein, ermattet von den Anstrengungen der end-losen Märsche.
Mir kam es so vor, als hätte ich kaum die Augen geschlossen, als morgens der Weckruf ertönte. Antreten! Flugs wurden beim Schein einer Kerze die Mäntel gerollt und die Decken im Tornister verstaut. Wir suchten unsere paar Habseligkeiten zusammen und dann ging’s hinaus auf die Dorfstraße. Noch war es dunkle Nacht!
Drinnen im Dorf stellten sich die Züge auf. Kaffee gab es und Brot. Wir hatten lange keins mehr gegessen und uns wohl oder übel mit der Polenta der Italiener abgefunden.
Endlich kam der Marschbefehl! Die Spitze setzte sich in Bewegung, die Verbindungs-leute folgten – dann die einzelnen Züge in Reihen zu zweien links und rechts der Straße. Merkwürdig kam mir diese Marschweise vor. Ich hatte dabei immer das Gefühl, als ob es nur zu einer harmlosen Felddienstübung ginge. War man doch vom Grabenkrieg seit Jahr und Tag eine ganz andere Taktik gewöhnt.
Das Dorf hatten wir bald hinter uns. Hohe Maisfelder tauchten auf, eine aus Steinen errichtete Straßenbarriere mußte überstiegen werden. Nirgendwo rührte sich was. Schweigend marschierten die Leute dahin, den Karabiner um den Hals gehängt, die Hände in den Taschen. Ab und zu langte einer nach der mit Wein gefüllten Feldflasche, um einen Schluck daraus zu tun. Und dann entstand zur Abwechslung wieder mal eine kleine Stockung.
Nach etwa einer Stunde erreichten wir eine Straße, die von hohen Bäumen begrenzt war; sie zog am Fuße eines Berges hin. Von der weiteren Umgebung konnten wir nicht viel sehen, denn es war immer noch ziemlich dunkel.
Da blitzen auf einmal Schüsse vor uns auf und ein paar Kugeln pfiffen über die Straße hin. Mein Vordermann meinte: da vorn sei’s nicht ganz sauber und ich meinte es auch. Wir waren Verbindungsleute zwischen der Spitze und der Kompagnie.
Nun kam der Kompagnieführer, Oberleutnant Nagel, an uns vorbei. Er rief meinen Namen uns als ich mich meldete, eröffnete er mir, daß ich als Gefechtsordonnanz zu ihm bestimmt sei. Ein Radfahrer mußte mir sein Rad aushändigen und außerdem durfte ich meinen Tornister abgeben, was mir eine ganz besondere Freude war.
In dieser Zeit war die Kolonne wieder in Gang gekommen. Es muß wohl nur eine Patrouille gewesen sein, die uns da auf der Straße einige Schüsse entgegensandte. Ich begab mich nach vorne und marschierte, mein Rad schiebend, neben dem Kompagnie-führer vor der Spitze. Bereits fing es an, Tag zu werden, und siehe da, jetzt zeigten sich die Umrisse eines Dörfleins. Col. San Martino!
An den ersten Häusern machten wir halt. Karabinerkolben schlugen an die verschlos-senen Türen. Wir riefen und schimpften, aber niemand öffnete. Schließlich hatten wir auch gar keine Zeit, uns lange aufzuhalten. Die Spitze marschierte weiter!
Oberleutnant Nagel sagte zu mir, ich solle einmal vorfahren und sehen, ob ich nicht einen Zivilisten finde. Vielleicht hoffte er, auf diese Weise etwas über den Gegner zu erfahren. Ich setzte mich also aufs Rad und fuhr los. Das Dorf bestand aus vereinzelten, von Gärten umgebenen Gehöften – es zog sich sehr in die Länge. Kein Mensch war zu sehen und ich dachte mir wohl, daß auch die übrigen Häuser verschlossen sein würden. In dem guten Glauben, mit der Zeit schon jemand zu begegnen, fuhr ich immer weiter.
An einer Straßenbiegung stieg ich ab, um mich zu orientieren und ein wenig Ausschau zu halten. Ich sah eine Brücke vor mir und als ich auf sie zuging, gewahrte ich, daß jemand die Straße herunterkam. Wie ich bald erkannte: ein italienischer Soldat. Da ich an einer Hecke stand, konnte er mich nicht bemerken. Ich ließ ihn ganz nahe herankom-men. Plötzlich blieb er wie versteinert stehen. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, ihn auf die Entfernung niederzuschießen, denn ich hatte meinen Karabiner bereits schußfertig in Händen, während er sein Gewehr noch umhängen hatte. Ich wollte ihn aber gefangen nehmen und rief ihm deshalb zu, zu mir herzukommen. Er rührte sich nicht von der Stelle. Wie ich nun auf ihn zuging, machte er plötzlich kehrt und sprang in rasendem Lauf der Brücke zu. Ich knallte, da im Morgengrauen ein genaues Zielen nicht möglich war, aufs Geratewohl hinter ihm drein. Er fiel, raffte sich jedoch gleich wieder auf und verschwand hinter dem schützenden Ufer des Baches. Auch die Spitze der Kompagnie, die inzwischen aufgerückt war, hatte einige Schüsse auf den Flüchtling abgegeben.
Jetzt wurde es lebendig! Vom Bach her krachte es auf uns los, so daß wir es vorzogen, im Straßengraben volle Deckung zu nehmen. Das Feuer wurde immer stärker.
Oberleutnant Nagel war sofort zur Stelle. Er gab Befehle und gleich darauf brachen die Stoßtrupps in die Gärten ein, schwärmten aus und gingen gegen den Feind vor. Die Spitzengruppe mit Leutnant Böhmig arbeitete sich im Straßengraben an die Brücke heran, in deren Umgebung besonders heftig geschossen wurde. Auch Handgranaten wurden von dort aus geworfen.
Ich begab mich zum Kompagnieführer. der auf der Straße stand. Er hatte mich kaum erblickt, als er schon wieder einen Auftrag für mich wußte. Diesmal eine Meldung an die Infanterie-Geschütz-Batterie, die da irgendwo im Dorf stehen sollte. Ich holte mein Rad, das noch unversehrt auf der Straße lag und stieg auf. Kugeln klatschten gegen die Mauern der Häuser und es war mir, als ob die Italiener nun alle auf mich schießen würden. Doch schlug ich ein scharfes Tempo an und war bald um die Ecke.
Im Dorfe stand die Kompagnie Busse, deren Leute ungeduldig auf den Befehl zum Eingreifen warteten. Von allen Seiten rief man mir zu, was denn eigentlich los sei vorne. Ich hatte aber gar keine Zeit um, all die Fragen zu beantworten. Nachdem mein Auftrag erledigt war, fuhr ich wieder nach vorne. Das Gefecht ging seinem Ende entgegen; man hörte nur noch vereinzelt Schüsse fallen. Ein Verwundeter wurde vorübergetragen: Max Klett, der zur Spitzengruppe gehörte und beim Vorgehen auf die Brücke einen schweren Unterleibschuß erhalten hatte. Am Nachmittag ist er im Pfarrhaus in San Martino ge-storben.
Oberleutnant Nagel traf ich vorne auf der Brücke; er verhörte gerade einen gefangenen italienischen Sergeanten, der etwas Deutsch konnte. Es war jetzt vollends Tag gewor-den. Vor uns: Hecken und hohe Maisfelder – ein ungünstiges Gelände. Die Kompagnie sammelte sich allmählich wieder; von allen Seiten kamen die Gruppen herbei, Gefan-gene mit sich führend.“
Der Gegner wich in Richtung Vidor aus. 53 Gefangene blieben in unserer Hand und beim weiteren Vorgehen ergaben sich noch etliche versprengte Italiener.
Das Bataillon marschierte jetzt nach Valdobbiadene, wo Leutnant Schiefer mit seinen Radfahrern wieder zur Kompagnie stieß. Von hier aus fuhr die Patrouille, der sich auch einige mit Fahrrädern versehende Ordonnanzen angeschlossen hatten, zur Erledigung ihres Auftrages zunächst nach San Vito; sie pirschte sich von dort zu Fuß an die Piavebrücke heran, die vollkommen intakt war, da der Gegner seinen Rückzug über den Fluß noch nicht beendet hatte.
Gegen 11.30 Uhr vormittags gelangte unsere Kompagnie an den Westausgang von San Vito, an dem auf Befehl des Bataillons gehalten wurde. Ein toter Bersagliere lag an der Straße; er hatte einen Kopfschuß. Hier also war die Patrouille Schiefer auf den Feind gestoßen. Während des Anmarsches hatte man eine Schießerei gehört, die aber rasch abflaute. Wo waren die Radfahrer? Hatten sie die Brücke erreicht?
Die Zustände, wie wir sie zu jener Stunde an der Piave antrafen, schildert uns Paul Körner in seinem Tagebuch:
„Als wir von San Vito aus durch Hecken und Gärten weiter vorgingen, wurde auf einmal die Piave sichtbar – der Fluß, von dem seit Tagen die Rede war, von dem man annahm, daß an ihm die Entscheidung fallen würde. Es war ein unvergeßlicher Anblick. Ein tiefes Tal – die vielverzweigte Wasserfläche der Piave – hüben und drüben Berge mit Weingärten an den unteren Hängen – Torrenten, Straßen, Weinbergwege. Und, was uns gerade in Erstaunen setzte: der Feind in geschlossenen Kolonnen auf dem jensei-tigen Ufer. Infanterie, Artillerie und Troß. Ahnungslos bewegte er sich auf der Straße. Es handelte sich um Teile der italienischen Heeresgruppe, die von Feltre durchs Piavetal südwärts marschierten. Lokomotiven rasten auf der Bahnlinie Feltre – Treviso laut pfeifend dahin, ein Zug fuhr vorüber. Auf Befehl des Majors von Breuning wurden sofort Maschinengewehre und Geschütze vorgezogen. Die Batterie ging in Stellung, Maschinengewehre ratterten los, Karabiner knallten und bald erdröhnten die ersten Abschüsse der Geschütze. Beim Feind Verwirrung und Bestürzung. Er konnte auf der unmittelbar an den Bergen sich hinziehenden Straße nicht ausweichen und war so dem Feuer preisgegeben…..“
Währenddessen hatten sich auf Anordnung von Oberleutnant Nagel der 2. Zug mit Leutnant Noller und Leutnant Hagenmayer mit drei leichten Maschinengewehren an die Piavebrücke begeben, die Leutnant Schiefer mit seiner Patrouille bereits angegriffen hatte. Vor dem Brückenhaus diesseits des Flusses befand sich eine starke Straßenbar-rikade, von der aus günstig postierte feindliche Maschinengewehre auf die Unseren ein heftiges Feuer eröffneten. Auf der Brücke selber gewahrte man italienische Soldaten, die in fieberhafter Eile die Sprengung vorbereiteten. Wie nun die Barrikade erstürmt wurde, flog die Brücke unter ungeheuren Detonationen in die Luft. Drei der großen Brückenbogen waren durch die Sprengung zerstört.
Nun fing die feindliche Artillerie zu schießen an; erst aus kleineren und später aus mittleren Kalibern. Auf das Dorf San Vito und die Straße zur Brücke konzentrierte sich ihr Feuer, so daß das Bataillon ziemliche Verluste erlitt. Deutlich waren auf dem Berg Tomba die gegnerischen Stellungen zu erkennen.
Von unserer Kompagnie sind an der Piavebrücke verwundet worden: Gefreiter Alber, die Grenadiere Kuhn, Hallwachs, Bodmer und Stoll.
Leider ist der verwundete Hermann Bodmer zwei Tage später in der als Verbandsstätte eingerichteten Kirche von Valdobbiadene durch einen Granatvolltreffer gefallen. Er war, als das Lazarett beschossen wurde, noch einige Male in die Kirche zurückgegangen, um Schwerverwundete zu bergen. So hat er den Tod gefunden als ein echter Soldat, als ein Mann, der sich ohne Besinnen für die Rettung der hilflos daliegenden schwerverwun-deten Kameraden einsetzte. Wir können stolz auf ihn sein. Er wurde laut Paul Körners Tagebuch am 13. November im Beisein der 11. Korporalschaft auf dem Klosterfriedhof in Valdobbiadene beerdigt.
Nach Sprengung der Piavebrücke rückt eine Patrouille unter Führung von Unteroffizier Nedele gegen Segusino vor, um den östlich der Piave zurückgebliebenen italienischen Sicherungs-Abteilungen den Rückzug abzuschneiden. Der 2. Zug besetzte die Höhe 442 und einige Gruppen übernahmen die Sicherung der Brücke. Der Rest der Kompagnie verblieb in San Vito. Schuß auf Schuß jagte die gegnerische Artillerie in die Ortschaft und schon zeigte das Dorf, das am Mittag noch einen so friedlichen Eindruck gemacht hatte, ein höchst unerquickliches Bild. Zertrümmerte Fenster, die Straßen besät mit Dachziegeln! Frauen und Kinder suchten das Nötigste in Haus und Hof zusammen, um dann zu fliehen, irgendwohin. Viele der Einwohner sind den Granaten zum Opfer gefallen. Es war überall ein Weinen und Weheklagen und die Leute konnten sich umso weniger mit diesem Schicksal abfinden, als doch die italienischen Truppen und ihre Verbündeten es waren, die das Dorf zugrunde richteten.
Gegen Abend traf von Major von Breuning der Befehl ein, die einige Kilometer weiter nördlich an der Piave gelegenen Ortschaften Segusino und Vas zu besetzen. Über den Vormarsch dorthin, den wir bei Beginn der Dunkelheit antraten, berichtet Oberleutnant Nagel:
„Die am Brückenhaus mit Drahthindernissen versperrte Straße von San Vito nach Segusino bildete die einzige Möglichkeit, zu diesen Ortschaften zu gelangen. Das Brückenhaus am Anfang der zerschossen Brücke und der dortige Straßenteil lagen Unter fortgesetztem feindlichen Artilleriefeuer. Ein Umgehen dieser gefährdeten Stelle war aber nicht möglich, da die Straße links durch die Piave und rechts durch einen steilen Hang begrenzt war. Der Marsch mußte also unbedingt durchs Artilleriefeuer hindurch erfolgen.
An Hand der Uhr stellte ich eine gewisse Regelmäßigkeit im Abschuß der feindlichen Artillerie fest. Die Salven folgten mit Unterbrechungen von etwa je zwei Minuten. Es galt also, in dieser Zeit die Feuerzone zu überwinden.
Nach einer dieser Salven ließ ich die Spitzengruppe im Laufschritt antreten. Meine Berechnung hatte aber nicht gestimmt, denn als ich gerade mit Hörauf und Dais sowie der vordersten Gruppe die windige Stelle passierte, wurde die feindliche Artillerie ihrer Gewohnheit untreu. Hätten wir das Aufblitzen der Abschüsse nicht sofort erkannt und uns rechtzeitig zu Boden geworfen, so hätte es uns, da wir mehrere Volltreffer bekamen, schlecht ergehen können. So waren wir nur mit Steinen und Schmutz überschüttet worden. Ein Glück, daß die geschlossene Kompagnie erst auf etwa 60 Meter Entfernung nachfolgte. Am Eingang der Ortschaft Segusino bot sich uns eine weitere Überraschung dadurch, daß wir plötzlich angeschossen wurden. Wir machten sowohl hier wie auch in Vas Gefangene.“
In beiden Dörfern gab es reiche Vorräte an Lebensmitteln. Es wurden starke Wachen an der Piave ausgestellt und nur einem kleinen Teil der Kompagnie war es vergönnt, ins Quartier zu kommen und einige Stunden zu schlafen.“

aus: „Württembergische Sturmkompagnie im großen Krieg“ׅ, Stuttgart 1930


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