Das „Schwäbische
Kriegstagbuch“ berichtet aus Dünaburg:
„Das
Gesamtbild der Stadt mutet entschieden russisch an. In erster Linie und im
Gegensatz zu Lodz, Wilna, Grodno u. a. – keine polnische, keine deutsche
Aufschrift. Die hohe Pelzmütze und der lehmfarbene Soldatenmantel herrschten
vor. Die Russen sind gut gekleidet, gehen einzeln oder in Trupps, gleichgültig,
ohne Eile. Die meisten ohne Kokarde, alle ohne Achselklappe und Waffe. Winken
uns zu, begrüßen uns als Kameraden, fahren in jenen kastenartigen Schlitten (an
denen dicke Quasten baumeln und deren reich messingbeschlagenes Geschirr mehr
zur lebhaften Gangart, als zu der elenden Verfassung des Rößleins paßt) und
lachen …. „Für uns ist der Krieg aus!“ …. Man hat es gemerkt gestern – sie
hatten sich längst aus ihren Stellungen fortgemacht und uns nicht in Unkosten
und Munitionsvergeudung gestürzt …
Die
übrige männliche Bevölkerung trägt auch Uniform. Wenigstens wirken die
Reit-stiefel, Stiefelhosen, die Schirmmütze und der Rock mit Quetschfalten und
Außenta-schen so ähnlich. Letzterer sieht übrigens – gut gearbeitet – praktisch
und kleidsam aus. Die von den Bolschewiki ihrer Gradabzeichen beraubten
Offiziere erscheinen täglich mehr wieder mit Achselstücken und Kokarde. Sie
fügen sich gelassen in das Unver-meidliche. Auszeichnungen habe ich noch auf
keiner russischen Soldatenbrust entdek-ken können.
Ich
sagte, die Stadt erscheine typisch russisch. Daran ist wohl auch der bedeutend
weniger starke jüdische Einschlag schuld, als er z. B. links der Düna
allenthalben zu Tage tritt. Dort sieht man als Vertreter des Bürgerstandes nur
Juden, hier gibt es elegante Frauen und Männer slawischen Typs. Auch die Letten
und Litauer haben sich hier an der Sprachgrenze schon so mit den Slawen
vermischt, daß mein Auge sie nicht mehr trennen kann. Gesprochen wird in erster
Linie lettisch und russisch, dann deutsch und polnisch, schließlich noch
jüdisch. Die Stadt soll im Frieden 80 000 Einwohner gehabt haben. Viele sind
jetzt aus Angst vor kommenden Unruhen geflüchtet. Trotz der ziem-lichen
Entfernungen gibt es auch in „Twinsk“ keine Straßenbahn. Der Bürger fährt mit
der Schlittendroschke, der Bauer mit seinem eigenen Schlitten, auf dem er
zusammen-gekauert mit einer Handvoll Streu unter den Knien hockt. Die zähen
kleinen Pferde traben unermüdlich und werden ohne Trense gefahren. Über dem
Kummet wölbt sich ein Bogen aus Holz und mit Messing verziert, der den
Gefährten einen malerischen Reiz verleiht. Pferdekadaver in jedem Stadium der
Verwesung, von den Hunden zerfleischt und mit geöffnetem Bauche, liegen in
allen Stadtteilen (in der Nähe von Kasernen zu Dutzenden!) umher. Eine Unzahl
vagabundierender Hunde bevölkern Straßen und Höfe. In Bündeln überqueren
Feldkabelleitungen Bäume, Zäune, Dächer. Ihr unbeschreib-liches Wirrsal würde
allein schon die Zustände trefflich zu illustrieren vermögen, die auf den
Schreibstuben und Kommandostellen, die sie ehedem verbanden, geherrscht haben.
Das Auge sucht vergeblich in den schnurgeraden Straßen eine Fensterreihe ohne
zer-brochene Scheiben „Die Bolschewiki“ – sagt man uns. Ich will ihnen
Gerechtigkeit widerfahren lassen: die deutschen Flieger und ihre Bomben sind
auch nicht ganz schuld-los daran. Aber wie jene bestgehaßte Partei von Männern,
die Selbstbestimmungsrecht und Gerechtigkeit auf ihre Fahne geschrieben zu
haben vorgeben, das Staats- und Privateigentum zerstört – davon habe ich wenige
Schritte von meinem Quartier beredte Zeugen. Die Kaserne mir gegenüber ist zur Unterbringung
von Menschen nach unseren Begriffen überhaupt nicht mehr brauchbar, Scheiben,
Öfen, gewaltsam zertrümmert, von Inneneinrichtung auch nicht die leiseste Spur
mehr. Der Fußboden hoch bedeckt mit menschlichem Unrat, Stroh, Gasmasken und
Konservenbüchsen. Im Erdgeschoß plät-schert eine Wasserleitung, die sich nicht
mehr abstellen läßt. Als Folge davon sind Hof und benachbarte Räume einen
halben Meter dick mit Eis bedeckt. In den Ställen und Schuppen dasselbe Bild.
Das Offizierskasino zeigt die Segnungen der Revolution besonders deutlich; es
wurde zum Pferdestall umgewandelt, durch die Fensterlöcher sieht man im Innern
Berge von gefrorenem Dung und von den Pferden zur Hälfte auf-gefressenes
Holzwerk.“
aus: „Schwäbisches Kriegstagbuch“, Stuttgart 1918
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