Freitag, 20. Juli 2018

20. Juli 1918



„Was die Herren vom Munitionslager uns so liebenswürdig mitgeteilt hatten, das ge-schah nun, das Regiment wurde herausgezogen, voran die erste Abteilung.
Ein dumpfes Rollen von Westen her begleitete die drei Batterien am Morgen des 18. Juli auf ihrem Marsch.  Als sie gegen Mittag in ihre Unterkunftsräume bei Braisne rückten, da lag es wie eine Ahnung auf den Gemütern, daß sie sich hier nicht zur Ruhe strecken werden. Und noch hatten Fahrer und Kanoniere den Straßenstaub nicht von den Stiefeln geschüttelt, da fiel schon der Befehl an die Batterien herein; „Die Abteilung rückt sofort vor nach Nanteuil notre Dame!“ Der längst erwartete Vorstoß der Franzosen aus den Wäldern von Villers Cotterêts war erfolgt. Vorwärts denn und wieder zurück den Weg!
Glühende Julihitze, die Straßen dick mit Staub bedeckt. Immer deutlicher, je weiter sie kamen, zeichnete sich ihnen, was auf sie wartete. Bagagen, Protzen, Feldküchen, ohne Weisung und Befehl, fluteten ihnen entgegen, dazwischen Ausreißer und Drückeberger mit verstörten Gesichtern, die im Vorübereilen abgebrochene Sätze hervorstießen von Tankgeschwadern, die alles vor sich her zerstampften. Verwirrung auch in den Stäben; der Artilleriekommandeur befahl: hist! die Division: hott! So gab es für Abteilung und Batterien nur ein Kommando: selber sehen und handeln.
Die Batterien biwakierten am Straßenrain; bei Sonnenaufgang trafen sie bei Latilly an der befohlenen Stelle ein. Dasselbe Bild wie am Abend zuvor: überall zurückflutende Infanterietruppen, die in kopfloser Hast wichen, ohne einen feindlichen Angriff nur mehr zu erwarten, die Lage völlig ungeklärt. So setzte der Abteilungsführer, Hauptmann Eisenlohr, nur eine einzige, die erste Batterie ein; mit ihrem Führer ging er selber zur Höhe vor zum Erkunden.
Weit sah man von dort in das Vorgelände hinein. Reifendes, wogendes Korn, kleine Waldstücke dazwischen gestreut, Hügelwellen und flache Mulden. Im hohen Getreide vier zusammengeschossene rauchende Tanks, ein paar hundert Meter hinter uns die Trümmer einer deutschen Haubitz-Batterie. Sie war gesprengt worden auf das Gerücht: die Franzosen kommen! Wo kamen sie denn? Weit und breit war kein Gegner zu sehen, nur Trüpplein eigener Infanterie, die rückwärts liefen. Da kam wieder so eine Schar an den Artillerie-Beobachtern vorübergeschlichen. „Wohin, Herr Kamerad?“ Mit verlege-ner Mine meldete sich der angeredete Führer bei Hauptmann Eisenlohr; die Munition sei ihnen ausgegangen. Ei, da war abzuhelfen, da lagen eben fünftausend Schuß trefflicher Infanterie-Munition. Aber da wuchs die Verlegenheit des Leutnants. Seine Mannschaf-ten wollten ja keine Munition, nur fort wollten sie, weit weg von den Tanks. Wir danken für Ihre Hilfe, Herr Leutnant, und putzen Sie auch ihre Hosen gut aus, von innen nämlich!
Aber was war denn das? Leutnant Schlecht will sich eben auf der neugeflickten Leitung mit seinen Geschützen in Verbindung setzen, da ist keine Batterie mehr da! Sie hat abrücken müssen. Auf höheren Befehl! Es hieß: Die Franzosen kommen! Der feuer-leitende Offizier hatte sich auf die Hinterbeine gestellt: „Da vorne sitzt ja noch mein Batterie- und mein Abteilungsführer!“ Umsonst: „Wenn die noch da vorne sitzen,“ ward ihm zur Antwort, „dann sind sie längst gefangen.“
Wirrwarr, Kopflosigkeit oben und unten.
„Die Franzosen kommen!“ – und auf Kilometerweiten kein Franzose. Die Drähte waren zerschlagen, die Befehlsstellen nährten ihre Kenntnisse von Ausreißern von vorn, und die wußten alle nur eines: „Die Franzosen kommen!“
Einen Tag später. Noch schläft die Welt. Im Morgenzwielicht sehen wir den Führer der dritten Batterie, Leutnant Fischer, in seiner Feuerstellung zwischen La Croix und Latilly am Scherenfernrohr stehen. Siehe da, plötzlich wird es lebendig drüben am Waldsaum, ein halb Dutzend Tanks bricht aus dem Gehölz gegen unsre im Grunde liegende Schüt-zenlinie vor. „Batterie vor, offene Feuerstellung!“ Der Batterieführer selbst sitzt als Richtkanonier am linken Flügelgeschütz, das schon oben auf dem Rücken steht, die Kanonen lösen Schuß auf Schuß. Zwei Tanks sind getroffen, weißen Dampf ausstoßend bleiben sie liegen, der Rest des Panzergeschwaders verschwindet. Verlassen von ihren Schrittmachern stehen die französischen Infanteristen da, in ihre dichten Gruppen hinein fahren die Granaten.
Doch die eigene Infanterie denkt es der dritten Batterie schlecht. Sie räumt den Grund von Latilly und geht zurück. Da bekommt die Batterie Befehl zum Stellungswechsel. Es ist höchste Zeit; denn der Franzose hat aufgespürt, wer ihm den Angriff zerschlagen hat, und deckt die Batterie mit schwerem Feuer zu, an der Stellung vorbei aber hasten bereits die Trüpplein der weichenden Infanterie. Eben sind die Protzen angetrabt, drei Bespan-nungen sind abgerückt, die letzte will abfahren. Aber der Batterieführer läßt sie nicht fort: „Die Munition muß mit zurück!“ und fiebernd arbeiten sechzehn Arme zusammen. Da, ein Knall, Schmerzensrufe, ein Knäuel von Menschen und Pferden. Der Stangenrei-ter sitzt noch, von Schreck gelähmt, ohne Unterschenkel und Unterarme im Sattel. Unser Blick sucht die Stelle des Einschlags. Da erhebt sich Leutnant Fischer, als wollte er etwas befehlen, aber er sinkt lautlos wieder neben fünf schwerverwundeten Kame-raden. Die andern springen herzu und helfen, wo noch zu helfen ist; Leutnant Fischer ist hoffnungslos schwer getroffen.
Über die Höhe aber klimmen die ersten Blaujacken, und fragend schauen sich die Ka-meraden an: sollen sie ihren sterbenden Führer verlassen? Da kommt der Feldwagen und führt den Sterbenden und die Toten davon, die Kugeln schwirren um ihre Köpfe.“

aus: „Das 4. Württ. Feldartillerie-Reg. Nr. 65 im Weltkrieg“, Stuttgart 1925

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