„Wir
waren in der 2. Nacht in Kowel. Da wurden wir alarmiert. Schützenregiment 93,
das (wie wir in Kowel) in Rowno Schutzstellung beziehen sollte, weigerte sich
dessen und fuhr einfach weiter. Nach Anordnung des Soldatenrats Kowel, sollte
unser Batl. das Regiment 93 aufhalten und nach Rowno zurückschicken oder
entwaffnen. Bei bitterer Kälte fuhren wir zusammen mit 1 Batterie
Feldartillerie früh 4 Uhr nach Goloby (hier wechselten russische und deutsche
Spurweite – etwa 20 km östlich Kowel) ab. Das Bahnhofsgebäude wurde von uns besetzt,
die Geschütze und Maschinengewehre in Stellung gebracht. So erwarteten wir den
Transport der 93er. Gegen 7 Uhr traf er ein. Von 7 – 11 wurde verhandelt mit
dem Ergebnis, daß das Regiment 93 sich bereit erklärte mindestens solange in
Goloby zu bleiben, bis Verhandlungen mit dem Soldatenrat in Kiew und Berlin
gepflogen waren. Darauf fuhren wir wieder nach Kowel zurück.
In
den nächsten Tagen zogen wir um. Ich bekam Quartier bei einem Juden, der das
Handwerk eines Schuhmachers betrieb. Erstmals stand mir wieder ein Bett zur
Verfü-gung. Auch sonst waren Quartier und Leute nett. Und nun erreichte uns
erstmals Briefpost. Es war ein befremdendes Gefühl, sich wieder in Verbindung mit
der Heimat zu wissen Die Kompagnie, die auch in Privatquartieren untergebracht
ist, ist zum größten Teil auf Wache. Täglich gelangen neue Transporte hier an,
doch leider ohne Waffen. Sie werden dann gewöhnlich (weil nicht einsatzfähig)
rasch wieder weiter-befördert. Auf unsere Männer wirkte das wie ein rotes Tuch
auf den Stier. Sie machen uns Offizieren dauernd den Vorwurf, wir würden den
Abtransport nicht energisch genug betreiben. So muß man ständig mit ihnen
verhandeln und sie immer wieder beschwich-tigen, daß sie vernünftig bleiben.
Viel
Unruhe machte eben auch das Gerücht: „Die Etappeninspektion Bug hat folgenden
Plan: Das RIR 122 ist noch in guter Verfassung. Es soll deshalb den Kern bilden
für die Sicherungstruppen und über die ganze Dauer des Rücktransportes des
Ostheeres Kowel besetzt halten.“ Dieses Gerücht in Verbindung mit dem anderen,
daß die uns feindlichen Polen von Westen und Südwesten her immer näher
heranschieben, bedeutete in der Tat für uns alle eine große seelische
Belastung. Andere Truppenteile fingen an zu schieben, zu rauben und zu
plündern, wodurch es fast jede Nacht zu Schießereien in de Stadt kam. In diesem
Rahmen gesehen, waren unsere Männer in tadelloser Verfassung.
Selbstver-ständlich gab es auch unter den Männern meiner Kompagnie oft Aufregung
und Unzu-friedenheit. An machen Tagen wurde ich deshalb von ihnen geradezu
überlaufen. Sie staunten, daß ich über jeden Einzelnen so gut Bescheid wußte.
„Bei dem ist man nicht bloß eine Nummer, der bekümmert sich scheints um jeden“,
das war ihr Eindruck, der mir viel genützt hat. Ich merkte es z. B. an dem
guten Gruß, den sie mir jederzeit gaben.
Weihnachten
1918 nahte und ich traf meine Vorbereitungen es in der Kompagnie gebüh-rend
feiern zu können. Da stürzte am 23.12.1918 gegen 7 Uhr Vizefeldwebel Heine ganz
aufgeregt ins Zimmer und meldete: „Herr Leutnant, ich glaube Lt. Volz ist tot.“
Mehr brachte er nicht heraus. Ich dachte an einen Über- oder Unfall. Sofort
begab ich mich ins Quartier von Lt. Volz und fand ihn halb angekleidet mit
einem Herzschuß tot auf dem liegend. Die Pistole (Mauser 08) lag ebenfalls auf
dem Bett. Es war also klar, daß Lt. Volz den Freitod gewählt hatte. Auf dem
Tisch lag das Tagebuch, dessen letzter Eintrag lautete:
„Mein deutsches Volk, wie tief bist du gesunken
von deiner Höh‘; denn dir hat Gott gegeben
die Kraft zum Siege. Doch dein höchstes Streben
hast selbst geknickt du; und den Gottesfunken
in dir hast du erstickt und selbst gewählt
hast du dir dein erbärmlich Sklavenjoch
Herr soll’st du sein auf Erden; die jedoch,
dir hat der Wille und der Mut gefehlt.
So führe nun jahrhundertlang dein Leben
als armer Bettler, hast ja jetzt den Frieden.
Erfüllung fand dein niedrig-knechtisch‘ Streben.
Mein Volk, verachten muß ich dich in Zorn und Schmerz,
und kann doch anders nicht als lieben dich,
dich lieben ohne Grenzen ewiglich.
Und diese Liebe bricht mir noch das Herz.
Ein Weg ist offen: leben ist nicht not,
doch frei sein, das ist not.
Zum Knecht, den Feinden dienstbar, tauge ich nur
schlecht.
Den Feinden meinen Hohn: Komm‘, Bruder Tod!“
Sicherlich
hat unser Kamerad Volz hart mit sich gekämpft, denn die letzten Zeilen (von „Ein Weg ist offen“
ab) mußten unmittelbar vor der Tat niedergeschrieben worden sein. Warum Lt.
Volz, der von Beruf Pfarrer war und in Kirchheim u./Teck Frau und Sohn hatte,
keinen anderen Ausweg finden konnte, ist mir nie ganz klar geworden. Am
Heili-gen Abend haben wir ihn auf dem Friedhof in Kowel zur letzten Ruhe gebettet.
Als ich später Frau Volz darüber berichtete, sagte mir diese seelenstarke Frau:
„Wenn niemand meinen Mann verstehen kann, so verstehe ich ihn umso besser. Mein
Mann konnte gar nicht anders handeln. Schwer wird mir nur, es einmal unserem
Jungen verständlich zu machen.““
aus: „Gottfried Rinker Heldengräber aus meinem
Soldaten- und Kriegsleben im 1. Weltkrieg“, Borsdorf 2011
mit freundlicher Genehmigung der Herausgeberin Dr.
Meike Hermann
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen