Sonntag, 23. Dezember 2018

23. Dezember 1918



„Wir waren in der 2. Nacht in Kowel. Da wurden wir alarmiert. Schützenregiment 93, das (wie wir in Kowel) in Rowno Schutzstellung beziehen sollte, weigerte sich dessen und fuhr einfach weiter. Nach Anordnung des Soldatenrats Kowel, sollte unser Batl. das Regiment 93 aufhalten und nach Rowno zurückschicken oder entwaffnen. Bei bitterer Kälte fuhren wir zusammen mit 1 Batterie Feldartillerie früh 4 Uhr nach Goloby (hier wechselten russische und deutsche Spurweite – etwa 20 km östlich Kowel) ab. Das Bahnhofsgebäude wurde von uns besetzt, die Geschütze und Maschinengewehre in Stellung gebracht. So erwarteten wir den Transport der 93er. Gegen 7 Uhr traf er ein. Von 7 – 11 wurde verhandelt mit dem Ergebnis, daß das Regiment 93 sich bereit erklärte mindestens solange in Goloby zu bleiben, bis Verhandlungen mit dem Soldatenrat in Kiew und Berlin gepflogen waren. Darauf fuhren wir wieder nach Kowel zurück.
In den nächsten Tagen zogen wir um. Ich bekam Quartier bei einem Juden, der das Handwerk eines Schuhmachers betrieb. Erstmals stand mir wieder ein Bett zur Verfü-gung. Auch sonst waren Quartier und Leute nett. Und nun erreichte uns erstmals Briefpost. Es war ein befremdendes Gefühl, sich wieder in Verbindung mit der Heimat zu wissen Die Kompagnie, die auch in Privatquartieren untergebracht ist, ist zum größten Teil auf Wache. Täglich gelangen neue Transporte hier an, doch leider ohne Waffen. Sie werden dann gewöhnlich (weil nicht einsatzfähig) rasch wieder weiter-befördert. Auf unsere Männer wirkte das wie ein rotes Tuch auf den Stier. Sie machen uns Offizieren dauernd den Vorwurf, wir würden den Abtransport nicht energisch genug betreiben. So muß man ständig mit ihnen verhandeln und sie immer wieder beschwich-tigen, daß sie vernünftig bleiben.
Viel Unruhe machte eben auch das Gerücht: „Die Etappeninspektion Bug hat folgenden Plan: Das RIR 122 ist noch in guter Verfassung. Es soll deshalb den Kern bilden für die Sicherungstruppen und über die ganze Dauer des Rücktransportes des Ostheeres Kowel besetzt halten.“ Dieses Gerücht in Verbindung mit dem anderen, daß die uns feindlichen Polen von Westen und Südwesten her immer näher heranschieben, bedeutete in der Tat für uns alle eine große seelische Belastung. Andere Truppenteile fingen an zu schieben, zu rauben und zu plündern, wodurch es fast jede Nacht zu Schießereien in de Stadt kam. In diesem Rahmen gesehen, waren unsere Männer in tadelloser Verfassung. Selbstver-ständlich gab es auch unter den Männern meiner Kompagnie oft Aufregung und Unzu-friedenheit. An machen Tagen wurde ich deshalb von ihnen geradezu überlaufen. Sie staunten, daß ich über jeden Einzelnen so gut Bescheid wußte. „Bei dem ist man nicht bloß eine Nummer, der bekümmert sich scheints um jeden“, das war ihr Eindruck, der mir viel genützt hat. Ich merkte es z. B. an dem guten Gruß, den sie mir jederzeit gaben.
Weihnachten 1918 nahte und ich traf meine Vorbereitungen es in der Kompagnie gebüh-rend feiern zu können. Da stürzte am 23.12.1918 gegen 7 Uhr Vizefeldwebel Heine ganz aufgeregt ins Zimmer und meldete: „Herr Leutnant, ich glaube Lt. Volz ist tot.“ Mehr brachte er nicht heraus. Ich dachte an einen Über- oder Unfall. Sofort begab ich mich ins Quartier von Lt. Volz und fand ihn halb angekleidet mit einem Herzschuß tot auf dem liegend. Die Pistole (Mauser 08) lag ebenfalls auf dem Bett. Es war also klar, daß Lt. Volz den Freitod gewählt hatte. Auf dem Tisch lag das Tagebuch, dessen letzter Eintrag lautete:
„Mein deutsches Volk, wie tief bist du gesunken
von deiner Höh‘; denn dir hat Gott gegeben
die Kraft zum Siege. Doch dein höchstes Streben
hast selbst geknickt du; und den Gottesfunken
in dir hast du erstickt und selbst gewählt
hast du dir dein erbärmlich Sklavenjoch
Herr soll’st du sein auf Erden; die jedoch,
dir hat der Wille und der Mut gefehlt.
So führe nun jahrhundertlang dein Leben
als armer Bettler, hast ja jetzt den Frieden.
Erfüllung fand dein niedrig-knechtisch‘ Streben.
Mein Volk, verachten muß ich dich in Zorn und Schmerz,
und kann doch anders nicht als lieben dich,
dich lieben ohne Grenzen ewiglich.
Und diese Liebe bricht mir noch das Herz.
Ein Weg ist offen: leben ist nicht not,
doch frei sein, das ist not.
Zum Knecht, den Feinden dienstbar, tauge ich nur schlecht.
Den Feinden meinen Hohn: Komm‘, Bruder Tod!“

Sicherlich hat unser Kamerad Volz hart mit sich gekämpft, denn  die letzten Zeilen (von „Ein Weg ist offen“ ab) mußten unmittelbar vor der Tat niedergeschrieben worden sein. Warum Lt. Volz, der von Beruf Pfarrer war und in Kirchheim u./Teck Frau und Sohn hatte, keinen anderen Ausweg finden konnte, ist mir nie ganz klar geworden. Am Heili-gen Abend haben wir ihn auf dem Friedhof in Kowel zur letzten Ruhe gebettet. Als ich später Frau Volz darüber berichtete, sagte mir diese seelenstarke Frau: „Wenn niemand meinen Mann verstehen kann, so verstehe ich ihn umso besser. Mein Mann konnte gar nicht anders handeln. Schwer wird mir nur, es einmal unserem Jungen verständlich zu machen.““

aus: „Gottfried Rinker Heldengräber aus meinem Soldaten- und Kriegsleben im 1. Weltkrieg“, Borsdorf 2011
mit freundlicher Genehmigung der Herausgeberin Dr. Meike Hermann

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